Schäfers Qualen
abermals seinen Hemdsärmel über die Hand, hob Gassers Telefon auf und stieg die Treppen hinunter. Die Spurensicherung war immer noch nicht da, dafür standen Aufschnaiter, Walch und Kern unschlüssig herum und unterhielten sich mit den Sanitätern.
Warum hatte er die Polizisten allesamt herbestellt? Er wusste gar nicht, wie er sie sinnvoll einteilen sollte. Um ihnen einen Beweis zu liefern, dass Gasser nicht freiwillig gesprungen war, müsste er sie über die Schuhe aufklären. Und das würde wahrscheinlich nicht nur seine Autorität untergraben, sondern auch seine Rolle in diesem Fall in Frage stellen. Er ging zu den Polizisten und trug ihnen auf, die noch anwesenden Zivilpersonen zu befragen, sofern das noch nicht geschehen war. Dann fragte er einen der Sanitäter um eine Zigarette, ließ sich Feuer geben und setzte sich auf die Bank vor der Kirche. Das Kreuz, der Beton, die Graffl-Wetti, seine Schuhe, Rohrschacher, das Ketamin, Obernauer, der Jude Steiner, der Kirchturm, Hinterholzer und sein Schwede, Kim Novak … in seinem Kopf drehte sich alles wie in einer Zentrifuge, die versucht, das Notwendige vom Unnötigen zu trennen.
Der Notarzt holte ihn aus seinen Gedanken zurück in die Kitzbüheler Altstadt. „Was ich Ihnen zuvor schon sagen wollte: Der Tote hat auf seiner linken Hand eine Nummer stehen. Wenn er sich die Hände regelmäßig gewaschen hat, ist die erst vor kurzem aufgeschrieben worden.“
Schäfer trat seine Zigarette aus, stand auf und ging zu Gassers Leiche. Vorsichtig drehte er dessen linke Hand um. 75892. Fünf Stellen. Wahrscheinlich eine lokale Telefonnummer. Hoffentlich. Er nahm sein Telefon heraus und gab die Nummer samt Kitzbüheler Vorwahl ein. Nachdem eine Minute lang niemand abgehoben hatte, legte er auf und trat auf seine Kollegen zu. „Finde mir bitte einer heraus, wem diese Nummer gehört.“
Schäfer drehte sich abrupt zu Gassers Leiche um und schlug sich mit der Faust an die Stirn. „Verdammt, ich Idiot“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Hat Gasser Familie?“
„Ja“, antwortete Aufschnaiter verunsichert, „Frau und zwei kleine Kinder.“
„Wo wohnen die?“
„Hintergrub … ich weiß, wo.“
„Fahren Sie mich hin. Kern, du kommst auch mit. Aufschnaiter, Sie warten hier, bis die Kollegin Baumgartner mit der Spurensicherung da ist. Die sollen sich den Turm vornehmen. Und dann die Baumgartner sofort zu uns.“
Walch startete den Wagen, schaltete Folgetonhorn und Blaulicht ein und fuhr mit quietschenden Reifen weg. Während der Fahrt sagte keiner ein Wort. Schäfers offensichtliche Nervosität hatte sich auf die beiden Polizisten übertragen, obwohl sie nicht wussten, was der Major eigentlich befürchtete.
„Kern, gib mir deine Glock.“ Schäfer entsicherte die Waffe und sprang aus dem Wagen, kaum dass Aufschnaiter in die Einfahrt zu Gassers Haus eingebogen war. Die Haustür war versperrt. Schäfer läutete, hämmerte mit der Pistole an die Tür und schrie: „Ich bin von der Polizei. Wenn niemand die Tür aufmacht, brechen wir auf.“
Dann drehte er sich zu Walch und Kern um und befahl ihnen, ums Haus zu gehen und alle möglichen Ausgänge zu überwachen. Und sie sollten verdammt noch mal vorsichtig sein. Im Schloss drehte sich ein Schlüssel. Die Tür ging langsam auf und Schäfer stand einer Frau um die vierzig gegenüber, deren von Angst, Schrecken und Tränen gezeichnetes Gesicht ihm sofort bestätigte, dass er recht gehabt hatte.
14
Die Frau zitterte so stark, dass Schäfer sie stützen musste, als er sie ins Wohnzimmer begleitete. Auf dem Sofa saßen zwei verängstigte Mädchen, die sich bei Schäfers Anblick panisch anein-anderdrückten. Er setzte ihre Mutter neben sie und bemühte sich, die Kleinen zu beruhigen. Redete sanft auf sie ein, zog seinen Ausweis heraus und legte ihn auf den Couchtisch. Die Pistole versteckte er vorne im Hosenbund. Bei dem, was die Kinder eben erlebt haben mussten, würde sie eine Waffe eher nicht beruhigen. Er setzte sich in einen Fauteuil und fragte Gassers Frau, ob sie irgendwen hätte, der vorübergehend auf die Kinder aufpassen könnte. Weil er jetzt ein paar Informationen von ihr bräuchte, die umso wertvoller wären, je schneller er sie bekäme. Die Frau schien nachzudenken und schaute Schäfer schweigend an. Er begann zu ahnen, was in ihrem Kopf vorging. Wenn jemand hier gewesen war, der die Familie als Geisel genommen und damit Gassers Selbstmord erzwungen hatte, war es gut möglich, dass er auch sie unter
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