Schäfers Qualen
Stirn, hielt jedoch auf halbem Weg inne und gab Schäfer stattdessen die Hand, was dieser erheitert mit einem kräftigen Händedruck erwiderte.
Nachdem Kern gegangen war, stellte sich Schäfer an die Balkonbrüstung und starrte in die Nacht hinaus. Er bemerkte, wie die Versagensängste, die er vor drei Tagen noch ausgestanden hatte, einem anderen Gefühl zu weichen begannen. Das Heranwehen einer Ahnung; ein Detail, das man erhascht, wenn man wie die Kinder durchs Schlüsselloch ins Zimmer schaut, in dem erst in einer halben Ewigkeit die Weihnachtsbescherung stattfinden würde. Geduld, Geduld, Geduld, sagte er sich und ging ins Zimmer zurück. Er legte sein Jackett an, nahm seine Glock aus dem Wandtresor und machte sich auf den Weg, um Rohrschacher zu finden.
Mit dem Widerwillen, den ein alkoholbedingter Verlust der Selbstbeherrschung im Nachhinein meist mit sich bringt, drückte Schäfer die Tür zum Wirtshaus auf. Zum Glück war es so gut besucht, dass zuerst kaum jemand von ihm Notiz nahm. Die Ersten, die sich nach ihm umdrehten, waren die Besucher des Stammtisches. Schäfer nickte ihnen kurz zu und stellte sich an die Bar. Von Rohrschacher keine Spur. Es dauerte, bis er den überforderten Schankburschen zu sich holen konnte. Nein, Rohrschacher wäre vorgestern das letzte Mal hier gewesen. Er solle doch im Stadtcafé nachschauen, dort wäre Rohrschacher ebenfalls Stammgast.
Schäfer wandte sich zum Gehen, als eine gut aussehende Frau Mitte dreißig ihm den Weg verstellte und einen verzückten Gesichtsausdruck aufsetzte, als wäre sie ein Groupie und er der einsame Rockstar, der am Abend vor dem Auftritt durch die Wirtshäuser zieht, wo keiner mit ihm rechnet, weil er in Wahrheit doch ein einfacher und sich nach menschlicher Nähe sehnender Bauernbub ist … Schluss jetzt, Schäfer. Sie stellte sich als Kerstin Unseld vor. Sie arbeite bei einer deutschen Tageszeitung und Schäfers kriminalistische Erfolge seien natürlich auch über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt. Er musste lächeln. Kenntnis und Anerkennung: die erste Lektion der Verführung. Obwohl er genau wusste, worauf sie hinauswollte, ließ er sich auf ihr Spiel ein. Ja, es gäbe Fortschritte, aber Details könne er zurzeit natürlich noch keine preisgeben. Ein Serienmörder? Das wolle er noch nicht bestätigen, zumal noch nicht eindeutig geklärt sei, ob es sich um einen einzigen Täter handelte. Wobei diese Auffassung angesichts der Tötungsart und des Umstands, dass in Kitzbühel in den letzten zwanzig Jahren gerade einmal zwei Morde, beides Beziehungstaten, passiert waren, nicht gänzlich von der Hand zu weisen wäre. DNA-Spuren? Auf einem Berggipfel, wo der Wind jeden Tag ein paar Mal staubsaugt? Im Beton, der alles zerfrisst? Bis jetzt noch nicht, nein, aber er glaube ohnehin nicht, dass er es mit einem bereits straffällig gewordenen Täter zu tun habe. Vielleicht wolle er ja etwas trinken und sich an einen Tisch setzen. Nein, danke, er müsse noch ein Gespräch führen. Zögern, Blickwechsel, die roten Haare, die Einsamkeit. Na ja, wenn sie Zeit habe, könnten sie ja nachher an der Hotelbar noch etwas trinken und weiterreden; allerdings: den Fall betreffende Informationen, die nicht auch allen anderen Journalisten zur Verfügung stünden, könne er ihr keine geben; nur damit das klar sei. Sie willigte ein und gab Schäfer ihre Karte, die er manierlich musterte und dann in die Innentasche seines Jacketts schob. „Na dann, bis bald“, verabschiedete er sich von ihr und hoffte, Rohrschacher sofort oder gleich gar nicht zu finden.
Als er fünf Minuten später die Tür des Stadtcafés aufzog und sich im bis auf drei Gäste leeren Lokal umsah, entdeckte er Rohrschacher an der Bar; mit einem Fuß auf der messingfarbenen Fußleiste und einem auf den Tresen gestützten Ellbogen bemüht, sein Gleichgewicht zu halten. Aufgekratzt, aufgrund des Treffens mit der hübschen Journalistin, und weil er zudem der Meinung war, dass Rohrschacher ihn hintergangen hatte, ging Schäfer auf ihn zu und gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter. Rohrschacher erschrak, machte eine halbe Drehung und hob instinktiv, doch fast lächerlich langsam, beide Fäuste vors Gesicht. Als er nach einer Zeitspanne, die Schäfer genug über den Grad seiner Alkoholisierung erzählte, sein Gegenüber erkannte hatte, ließ er die Fäuste sinken.
„Der Komm… der Major natürlich. Womit kann ich dienen?“, fragte Rohrschacher in einem Tonfall, als hätte er die Rolle des
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