Schäfers Qualen
Schäfer ließ Kern ans Telefon holen und bat ihn, ins Hotel zu kommen, um das Album abzuholen. Er hätte genauso gut ins Revier spazieren können, doch er wollte kurz mit Kern allein sein. Möglicherweise würde er ihn bald für ein paar Dinge brauchen, die nicht unbedingt jeder auf dem Revier wissen musste. Er legte auf und ging an die Tür, um sich seinen Tee geben zu lassen.
Auf dem Balkon fasste er die Ergebnisse des Tages in einem Word-Dokument zusammen, startete das Mailprogramm und schickte den Bericht an Bergmann. In seiner Inbox befanden sich achtundzwanzig Mails, die er schnell überflog. Wenn er ferngesehen oder ein paar Zeitungen gekauft hätte, wäre ihm nicht entgangen, dass sich mittlerweile auch die deutschen Medien auf den „Ritualmörder von Kitz“ gestürzt hatten. Das hieß wohl, dass die nächste Pressekonferenz anstand, ohne dass er nennenswerte Fortschritte vorweisen würde können. Nun, auch das war er gewohnt. Das launische E-Mail von Oberst Kamp war wohl auch aus derselben Sorge heraus entstanden. Ergebnisse, Ergebnisse, Ergebnisse! Schäfer kam nicht umhin, aus seinen bisherigen Aufzeichnungen einen kurzen Bericht zu destillieren, der Kamp über die Sachlage informierte. Auf einen vorzeitigen Kontakt mit den Journalisten, die ihm teilweise sogar ein „Entgegenkommen“ anboten, wollte er vorerst verzichten. Er beantwortete ihre Mails kurz und mit den Phrasen, die er sich von Kamp abgehört hatte, wenn diesem jeder Plan fehlte.
Es klopfte an der Tür. Schäfer stand auf und ließ Kern ins Zimmer. Er bot ihm an, sich aus der Hausbar zu bedienen, was Kern höflich, aber bestimmt ablehnte. Sie gingen auf den Balkon und setzten sich jeder in einen Liegestuhl. Schäfer überlegte, inwiefern er Kern in die bisherigen Ergebnisse und vor allem in seine Vermutungen einweihen konnte.
„Hör zu … ich werde in diesem Fall jetzt mehrere Fronten aufmachen. Auf der einen Seite werden sich deine Kollegen darum kümmern, alle geschäftlichen und privaten Tätigkeiten der Opfer so weit wie möglich zu durchleuchten. Geschäftsbücher … Mitarbeiter und Geschäftspartner vernehmen, das ist mehr als genug Arbeit für euch und die Kollegen aus Innsbruck. Dich möchte ich vorerst für ein paar andere Sachen einsetzen. Und bevor du dir jetzt als Spezialagent vorkommst: Ich glaube, dass Aufschnaiter und seine Truppe mehr Erfahrung haben als du, was gewisse Routineaufgaben betrifft. Das kannst du bei weniger wichtigen Fällen auch noch lernen, aber erstmal wirst du direkt mir unterstellt. Was genau da auf dich zukommt, kann ich dir noch nicht sagen. Aber wenn du einverstanden bist, dann gibst du mir jetzt deine private Mobilnummer und bist ab sofort rund um die Uhr für mich zu erreichen. So weit klar?“
Kern schaute Schäfer zuerst entgeistert an, fasste sich aber gleich wieder und antwortete so souverän, wie er konnte. „Natürlich, Herr Major, ich bin ab jetzt … ich werde Sie nicht enttäuschen … ähm … Danke.“ Er überlegte kurz und fügte hinzu: „Und wann fange ich an?“
Schäfer musste lächeln. „Jetzt gleich. Du bringst Halder dieses Album und bittest ihn, alle Bilder darin einzuscannen. Parallel dazu wirst du dir die Fotos, die er schon digitalisiert hat, am Computer ansehen und zu allem, was dir auffällig erscheint, Notizen machen. Das heißt: Ist einer auf den Bildern, dessen Gesichtsausdruck nicht zu dem der anderen passt? Gibt es eine Person, die mit den dreien öfter als einmal abgebildet ist? Gibt es ein Lokal, wo überdurchschnittlich viele Bilder gemacht worden sind? Wenn ja, hat es dort zum Beispiel einen Stammkellner gegeben, der uns weiterhelfen könnte. Und und und. Das wirst du in den nächsten paar Tagen angehen. Aber bevor du im Übereifer wen verschreckst: Du bringst mir jeden Tag deine Ergebnisse, ich entscheide, wer von wem befragt wird. Also keine Alleingänge. Wenn Halder heute nicht mehr alle Bilder schafft, lässt du dir von ihm erklären, wie es geht, und scannst die restlichen selbst ein. Gut zweihundert Seiten, das sollte bis morgen früh zu schaffen sein – oder bist du ein Computerverweigerer?“
„Nein, überhaupt nicht, ich hab den europäischen IT-Führerschein, morgen früh bringe ich Ihnen das Album zurück“, antwortete Kern eifrig.
„Gut … schreib mir da deine Nummer auf und dann: gute Nachtschicht.“
Kern tat, wie ihm geheißen, stand auf, nahm die Papiertasche mit dem Album und führte seine rechte Hand zum Salutieren in Richtung
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