Schängels Schatten
Rolle.«
»Schon. Sie können alles auf unserer Website nachlesen. Ich habe sie einrichten lassen, als mein Vater siebzig Jahre alt wurde.«
»Ich habe die Seite gesehen. Wunderbar. Sagen Sie …«
»Ja?«
»Da gibt es einen Link über das Deutsche Eck.«
»Das Deutsche Eck?«
»Ja, Sie wissen doch, der Zusammenfluss von Rhein und Mosel. Wo das berühmte Denkmal steht.«
»Ach so, ja, ja, ich verstehe … Dafür interessiert sich mein Vater sehr.«
»Genau. Ich auch. Wissen Sie, ich lebe nämlich in Koblenz. Was ich nur wissen wollte: Das Farbfoto, das am Ende der Seite gezeigt wird, also, das Ihr Vater von einem gewissen Wilfried Ramann bekommen hat …«
»Moment, ich verstehe nicht, was Sie sagen …«
»Das letzte Foto auf der Seite«, sagte er deutlich. »Von Wilfried Ramann. Wo haben Sie das her?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wer hat es Ihnen gegeben? Sie haben doch gesagt, Sie haben die Website für Ihren Vater machen lassen.«
»Warum wollen Sie das denn wissen? Was hat das mit unserer Firma zu tun?«
»Es interessiert mich eben auch.«
»Mein Vater hat ein paar alte Fotos über das Deutsche Eck gesammelt. Und da war dieses dabei. Woher er es genau hatte, weiß ich nicht.«
»Na gut. Wann ist Ihr Vater zurück?«
»Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Ich weiß es nicht.«
»Ich versuche es in den nächsten Tagen noch einmal. Wo ich zu erreichen bin, weiß Ihr Vater aus der E-Mail.«
»Ich habe die Mail gerade geöffnet. Es steht alles darin. Moment …«
»Ja?«
»Da steht ›Hotel Mercure‹.«
»Und?«
»Sie wohnen im Hotel? Ich denke, Sie leben in Koblenz?«
»Das … ist nur meine Büroadresse.«
»Gut.«
Mike verabschiedete sich und legte auf. Er ließ sich auf das Bett zurücksinken und starrte an die Decke. Komisches Sekretariat, dachte er, das nicht einmal weiß, wo der Chef ist. Obwohl die Sekretärin die eigene Tochter ist.
Schließlich stand er auf und ließ sich ein Bad ein. Die Plastikflasche mit dem Armani-Badezusatz hatte er mitgebracht. Er holte sich die Zigarillos, sein Feuerzeug, den Discman und die CD mit Goulds »Goldberg-Variationen« herüber. Eine Stunde dachte er unterstützt vom warmen Wasser, von der Musik und dem Tabak darüber nach, wie er in Oberwerth vorgehen könnte. Dann hatte er eine Idee.
*
Das Taxi rollt an einer Kirche vorbei. Dann geht es um eine Kurve. Weiter hinten sind der Fluss und der steile Felsen zu sehen.
Er lässt anhalten und ruft dem Fahrer zu, dass er warten soll. Er verlässt eilig den Wagen und läuft, so schnell er kann, dorthin, wo die meisten Touristen sind.
Dann schaut er nach oben. Was sich da gegen den blauen Himmel dunkel abzeichnet, erscheint ihm größer, als er es in Erinnerung hat.
Er weiß nun, dass alles wahr ist. Wie hat er überhaupt daran zweifeln können?
Etwas später fährt das Taxi durch enge Gässchen des nordöstlichen Vorortes. Immer wieder behindern parkende Autos die Durchfahrt. In einigen Sträßchen spielen Kinder. Als das Taxi vorbeifährt, halten sie den Ball fest und bleiben stehen. Der Wagen kämpft sich bergauf und hält vor einer schmalen Brücke.
Er orientiert sich noch einmal auf der Karte und stellt fest, dass die kleine Brücke vor ihnen über die Autobahn führt. Er muss auf die andere Seite. Und dann noch ein Stück weiter. Er hat keine Lust, durch die Hitze zu laufen. Er fordert, weitergebracht zu werden.
Der Fahrer schüttelt unwillig den Kopf. Dann sagt er irgendetwas. Er lässt den Motor an und lenkt den Wagen über die schmale Brücke. Dahinter liegt auf der linken Seite das letzte Haus; dann kommen Grundstücke mit Obstbäumen. Dazwischen verlaufen Feldwege.
Der Fahrer erklärt, dass es nun wirklich nicht mehr weitergeht. Wieder lässt er das Taxi warten. Mit dem zusammengefalteten Stadtplan in der Hand geht er auf einem der Feldwege davon. Während er durch die Hitze marschiert, versucht er sich zu erinnern. Die Bilder, die er von dieser Gegend im Kopf hat, und das, was er hier sieht, stimmen nicht überein. Doch die Karte zeigt ihm, dass er sich nicht irrt. Sich nicht irren kann.
Er muss einen Moment stehen bleiben und verschnaufen. Bis auf Grillenzirpen und das ferne Grollen der Autobahn ist es still. Er holt ein Taschentuch hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er wirft einen Blick auf die Karte. Dann geht er weiter.
Irgendwann dreht er sich um und sieht in der Ferne in einer dunstigen Senke die Stadt liegen. Eine riesige Ansammlung von Dächern und rechteckigen
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