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Schärfentiefe

Titel: Schärfentiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: I Mayer-Zach
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Treffpunkt fahren.

    2.
    Natürlich kam alles ganz anders. Die Juristen hatten sie mit Fragen gelöchert, und so dauerte das Seminar länger als geplant. Sie musste sich sehr beeilen, um überhaupt rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt zu kommen.
    Zeit, um sich vor den abenteuerlichen Recherchen umzuziehen, blieb ihr nicht mehr. Also musste sie mit dünnen Strümpfen, Stöckelschuhen und Kostüm auf Einbrechertour gehen. Dazu war es klirrend kalt. Wenigstens fand der Taxifahrer das Haus auf Anhieb – weit draußen in einer gottverlassenen Gegend. Das Objekt machte einen heruntergekommenen Eindruck, wie auch die wenigen Häuser, die von hier aus zu sehen waren. Nur bei einem war ein Fenster erleuchtet, die anderen wirkten ausgestorben. Vor der Tür stapelten sich Prospekte, das Haus war eindeutig seit Längerem unbewohnt.
    Paula bezahlte den Taxifahrer, und bevor sie ihn wegfahren ließ, vergewisserte sie sich, dass der Akku ihres Handys aufgeladen war und sie Empfang hatte. Die Vorstellung, in hochhackigen Schuhen von hier aus eine halbe Stunde zur nächsten Haltestelle stöckeln zu müssen, war nicht erbaulich. Von Ada und ihrem roten Renault Clio war weit und breit nichts zu sehen.
    Ungeduldig sah Paula immer wieder auf die Uhr, und proportional zum Vorrücken des Zeigers stieg ihre schlechte Laune.
    Es gab kein Türschild oder sonst einen Hinweis, wem das Gemäuer gehörte, und Paula war sich nicht sicher, ob Gerlinde Wagner ihnen die Wahrheit gesagt hatte. Im Gegenteil, je mehr sie darüber nachdachte, umso lächerlicher kam sie sich vor, um nicht zu sagen, wie eine neugierige Pubertierende, nicht wie eine erwachsene Frau. Aber was hieß schon erwachsen?
    Früher hatte sie immer gedacht, das Leben älterer Menschen – damit meinte sie damals Leute um die dreißig, also in jenem Alter, in dem sie sich nun befand – müsse stinklangweilig sein, angefüllt mit immer gleichen Verpflichtungen. Bisher hatte sie davon noch nichts mitbekommen. Im Gegenteil, mit jedem Lebensjahr wurde es ein klein wenig spannender. Und es gab viele Vorteile: Man konnte sich zum Beispiel kindisch aufführen, ohne als unreif bezeichnet zu werden. Überhaupt war man viel freier, weil jeder ohnehin erwartete, dass man in der Lage war, sein Leben zu bewerkstelligen. Eines allerdings stimmte. Die Endlichkeit wurde bereits manchmal spürbar. Plötzlich gab es Dinge, die man hinter sich hatte. Endgültig und unwiederbringlich ein für alle Mal. Während sie als junges Mädchen überzeugt gewesen war, dass alles möglich sei, hatte sie nun manchmal eine recht konkrete Ahnung, dass sie einiges in diesem Leben nicht mehr erreichen würde und dass sie doch nicht so besonders und einzigartig war.
    Sie trat von einem Bein auf das andere und versuchte, sich mit Klopfen auf die Oberarme aufzuwärmen. Hätte sie heute Morgen nur den unförmigen Daunenmantel genommen statt des schicken Wollmantels, der für einen Winterspaziergang in Süditalien geeignet war, aber sicher nicht für Minusgrade in Wien. Von Ada war weder etwas zu sehen noch zu hören. Paula probierte es am Handy, aber es antwortete nur die Mailbox. Um sich von der Kälte und dem Warten abzulenken, sah sie die Prospekte durch. Wenigstens stimmte der Zeitraum überein: Alle informierten über Kaufangebote ab Anfang November, das hieß nach Urbans Ableben.
    Es war schon eine Viertelstunde nach fünf. Ein Stück Draht, das am Boden lag, kam ihr gerade recht. Sie stocherte damit im Schloss herum und versuchte erfolglos es aufzubekommen. Verärgert warf sie das Drahtstück weg. In den Fernsehkrimis sah das immer so einfach aus.
    Das ganze Unternehmen kam ihr zusehends verrückt vor, ihr Interesse ins Haus zu gelangen, sank wie die Außentemperatur.
    Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, dem Tipp einer unbekannten Person nachzugehen? Vielleicht war Gerlinde Wagner verrückt oder machte sich einen Spaß daraus, sie in die Irre zu führen? Je länger sie frierend und mutterseelenallein wartete, umso verworrener wurden ihre Gedanken und umso sicherer wurde sie, dass sie auf einen Streich hereingefallen war.
    „Verdammt, Ada, wo bist du? Musst du immer zu spät kommen?“, zischte Paula sauer vor sich hin. Dabei war Ada noch nie zu spät gekommen.
    „Es ist nicht wichtig, die Erste zu sein, es ist nur wichtig, den richtigen Schlüssel zu haben.“
    Paula fuhr erschrocken herum. Ada stand hinter ihr und hatte ihre Maulerei gehört.
    „Wieso kommst du so spät und wieso ist dein Handy nicht

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