Schärfentiefe
fragte Ada, ob sie es sich einrichten könnte, ihn am Freitag um sechs Uhr zu besuchen.
„Klar, das teile ich mir schon ein. Könnten wir nicht vorher zu dieser Adresse gehen und uns umschauen? Das würde mich brennend interessieren.“
„Können wir. Sagen wir um fünf?“
„In Ordnung. Wir treffen uns direkt dort und fahren dann gemeinsam mit meinem Auto zu Blesch.“
„Abgemacht.“
Neun
1.
Das anhaltende Klingeln des Telefons riss Paula aus dem Schlaf. Sie hörte, dass Kurt unter der Dusche stand. „Guten Morgen, Frau Ender. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt?“
Sie erkannte sofort die Stimme des Managers der Anwaltskanzlei, für die sie regelmäßig Kommunikationsseminare abhielt.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so früh anrufe. Aber ich habe intern ein Problem, bei dem Sie mir hoffentlich helfen können. Wäre es vielleicht möglich, dass Sie doch das Kommunikationsseminar bei uns abhalten, das wir vorige Woche auf Jänner verschoben haben? Meine Assistentin hat den Partnern leider vergessen mitzuteilen, dass es einen neuen Termin gibt, und nun haben sich alle darauf eingestellt, dass das Seminar heute stattfindet.“
Soweit Paula sich erinnerte, hatte der Kanzleimanager keine Assistentin. Aber er war ein freundlicher Mann, dem sie gern aus der Patsche half, zumal sie nichts wirklich Dringendes zu tun hatte. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach acht.
„Sagen wir um halb zehn bei Ihnen in der Kanzlei?“
„Großartig. Vielen herzlichen Dank, und entschuldigen Sie den Überfall.“
„Keine Ursache.“
Nachdem sie die letzten Tage so fleißig an der Biografie gearbeitet hatte, kam es ihr sehr gelegen, wieder ein Seminar abzuhalten. In den letzten Monaten war sie bis zu viermal in der Woche im Einsatz gewesen. Die plötzliche Leere im Terminkalender hatte etwas Beunruhigendes an sich. Was, wenn plötzlich viele Firmen Einsparungsmaßnahmen planten?
Bei ihren Seminaren würde der Rotstift wahrscheinlich zuerst angesetzt werden. Aber das war das Risiko der Selbständigkeit: Genau wusste man nie, wie sich die Geschäfte entwickeln würden.
Kurt hatte bereits Kaffee gemacht, und so setzte sie sich zu ihm an den Küchentisch.
„Was machst du zu Weihnachten? Fährst du nach Hause oder ziehst du es vor, in Wien zu feiern?“ Paula wusste mittlerweile, dass Kurt nur nach Hause fuhr, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Warum das so war, hatte er ihr nie im Einzelnen erzählt, aber aus verschiedenen Andeutungen reimte sie sich zusammen, dass sein Vater zu sehr dem Alkohol zusprach, und seine Mutter ein zänkisches Weib war.
„Ich weiß noch nicht. Einerseits mag ich mir nicht die miese Stimmung zu Hause geben, andererseits allein hier zu sitzen, ist auch nicht verlockend.“
„Komm doch mit zu mir! Gerade heuer wäre ich sehr froh, wenn ich einen netten Begleiter hätte. Eine Verwandte kommt, sehr mühsam und ätzend. Da wäre es für mich schön, nicht allein zu sein. Nicht zuletzt, um den dummen Befragungen zu meiner Familienplanung und den Anspielungen auf das Ticken meiner biologischen Uhr zu entgehen.“
„Und was ist mit deinem Lover?“
„Der feiert in Tirol mit seiner Familie. Aber er kommt zu Silvester nach Wien.“ Das klang entschuldigend. „Also, was ist?“
„Okay.“ Das war kurz und bündig Kurt. Ein Grinsen überzog Paulas Gesicht. Ganz automatisch. Kurt mochte zwar schwul sein, aber als Schutzschild gegen Tante Irma war er wie geschaffen. Plötzlich hatte Weihnachten wieder seinen Reiz.
Ein Blick auf die Uhr brachte sie rasch zurück in die Gegenwart. Mit Nadelstreifkostüm, weißer Bluse und schwarzen Pumps stöckelte sie kurze Zeit später in Richtung Anwaltskanzlei.Es machte ihr Spaß, sich den Bekleidungscodes der verschiedenen Unternehmenstypen anzupassen, in denen sie ihre Seminare abhielt. Alle Juristen, mit denen sie bis dato zu tun gehabt hatte, legten großen Wert aufs äußere Erscheinungsbild. Bei anderen Unternehmen war wiederum ein legerer Stil angebracht: Ein Kostüm in Nadelstreif würde bei einer Schulung mit Computerfreaks nicht gut ankommen, da waren Jeans und dunkle Klamotten die bessere Wahl. Ihre individuelle Berufserfahrungsliste ließe sich unendlich fortsetzen.
Paula hatte alles genau kalkuliert: Das Seminar würde bis halb vier dauern, der Termin mit Ada war um fünf. Es würde also noch genug Zeit bleiben, um nach Hause zu gehen und sich etwas Bequemes für die Entdeckungstour anzuziehen. Danach würde sie mit dem Taxi zum
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