Schärfentiefe
seine Wirkung. „Obwohl: Auch in Opern gibt es wunderschöne Arien, die man gut nachsingen kann.“ Für gewöhnlich gehörte Paula nicht zu den Personen, die coram publico „Wie eiskalt ist dies Händchen“ aus Puccinis „Bohème“ intonierten, doch heute tat sie es.
„Und dann diese tragische Geschichte, die todkranke Mimi, die sich in Rodolfo verliebt. Wie alles romantisch beginnt und dann so tragisch endet. Da hält er noch ihr eiskaltes Händchen, und sie sind so verliebt, und dann kriegt sie einen Hustenanfall und ist tot. Einfach schrecklich. Wirklich …“ Paulas Augen glänzten. War das der Beerenpunsch? Oder war es die Trauer über die tragische Liebesgeschichte mit dem eiskalten Händchen? Sie nahm noch einen Schluck.
Plötzlich packte sie Kurts Arm. „Da, da ist Markus! Da schau! Oh, wie schön, jetzt sehe ich ihn doch noch vor Weihnachten. So ein Schlingel. Anstatt brav die Koffer zu packen, feiert er hier ab. Wenigstens anrufen hätte er mich können. Aber ist ja egal. Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Weil es so sein musste.“
Paula wollte sich zu Markus durcharbeiten, was ihr nicht nur wegen der sich plötzlich drehenden Umgebung misslang, sondern auch, weil Kurt sie am Arm zurückhielt. „Wenn du den Mann dort vorne in der schwarzen Lederjacke meinst, dann geh nicht hin.“
„Klar, meine ich den. Kannst du dich nicht an ihn erinnern? Du hast ihn doch einmal in die Wohnung gelassen.“
„Entschuldige, aber da er dein Freund ist, habe ich ihn keines weiteren Blickes gewürdigt. Spaß beiseite, ich bin mir nicht sicher, ob er das ist.“
„Klar ist er das! Ich erkenne doch meinen Markus“, sagte Paula trotzig und wollte sich aus der Umklammerung befreien, aber Kurt ließ sie nicht los. Seine Augen bohrten sich in die ihren. „Er ist nicht allein da.“ Seine Stimme hatte einen beschwörenden Unterton angenommen.
„Na, das will ich wohl hoffen, dass er nicht allein da ist und sich ansäuft …“ Paula verging die Herumalberei, als sie in Kurts Gesicht sah und ihn sagen hörte: „Eine Frau und ein Kind sind bei ihm, und er scheint zu ihnen ein sehr inniges Verhältnis zu haben.“
Es dauerte einige Sekunden, bis diese Information von Paulas Gehirnzellen in dem relaxten Zustand, in dem sie sich im Augenblick befanden, in die richtige Schublade eingeordnet worden war. Diese Schublade war nicht mehr ganz leer. Erst vor zwei Jahren hatte sie ihren damaligen Freund in flagranti erwischt. Und würde sie weiterwühlen, dann würden noch einige vergessene Erlebnisse aus grauer Vorzeit an die Oberfläche drängen. Doch das brauchte es gar nicht, damit sie dieses Messer im Bauch spürte, das gerade ein Jemand namens Markus langsam umdrehte. Ohne es zu wissen. Eifersucht tat so weh.
„Wo ist der Typ? Bleib du da. Ich gehe hin und werde das herausbekommen.“ Clea, die Markus bisher nur aus Paulas Erzählungen kannte, ließ sich den Verdächtigen von Kurt beschreiben. Paula starrte dumm vor sich hin. Irgendwie war sie im falschen Film gelandet. Kurt umarmte sie und stieß mit ihr an. „Vielleicht ist es ja seine Schwester oder einfach nur eine Freundin“, versuchte er sie zu trösten. „Clea wird ihm sicher gleich die Absolution erteilen.“
Doch in diesem Augenblick sah Paula, wie er die junge Frau auf den Mund küsste. Das Kind umarmte sie beide. Familienidylle wie in Paulas Werbefilm, den sie auf dem Christkindlmarkt vor sich gesehen hatte. Aber eben ohne Paula. Die wohligen Gedankenflüge hatten ein jähes Ende gefunden. Hier und jetzt war die Realität, und die war im Moment gar nicht fein.
„Der ist verheiratet“, kam es leise über ihre Lippen und dann war ihr zum zweiten Mal an diesem Tag alles klar. Deshalb hatte er sie nie zu sich nach Hause mitgenommen. Klar, bei solchen Mitbewohnern wäre das schwierig gewesen. Und plötzlich war sein Schlaftick mehr als verständlich: Auch Journalisten beendeten irgendwann ihre Arbeit und elf Uhr abends war ein legitimer Zeitpunkt, um von einem späten Pressetermin nach Hause zu kommen, ohne Verdacht zu erregen. Alles war so logisch, und doch hatte sie es nicht geahnt. Nicht einmal die kleinste Spurvon Misstrauen hatte sie gehabt. Völlig sicher hatte sie sich gefühlt, wochenlang mit ihm von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Mein Gott, wie dramatisch. Wie in einer Oper. Fehlte nur noch das Messer, das sie ihm zwischen die Rippen stach.
„Zu Weihnachten packt er alle ein und fährt mit ihnen nach Tirol, um dort zu feiern. Und
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