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Schärfentiefe

Titel: Schärfentiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: I Mayer-Zach
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Oder zu Silvester nach Wien kommt und mit mir feiern will? Ich kann doch nicht so tun, als ob ich heute nichts gesehen hätte. Als wenn alles noch so wie bisher wäre. Ich glaube, ich würde ihn niederschreien oder ihm etwas an den Kopf werfen.“
    „Ich finde, dass es durchaus interessant wäre, seine Sicht der Dinge zu hören und seine Reaktion zu sehen. Ich hätte da einige Ideen.“ Clea grinste hämisch.
    „Wieso können nicht alle Männer so sein wie ihr, so intelligent, feinfühlig und sensibel?“ Paulas weinerliche Botschaft war an den schwulen Kurt gerichtet. Der schnaubte nur laut und verdrehte die Augen.
    „Ich bitte dich. Schwule sind auch nur Männer, und bei denen dreht sich alles genauso um Sex. Noch mehr als bei Heteros. Natürlich sind sie euch Frauen gegenüber sensibel, weil sie sich sexuell nicht für euch interessieren.“
    „Womit wir wieder mal beim Fakt sind, dass alle Männer Schweine sind. Anwesende ausgenommen.“ Clea beendete damit das leidige Gespräch auf die ihr übliche direkte Weise. Das eisige Schweigen, das daraufhin folgte, hielt so lange an, bis sie sich mit elegantem Schwung wenige Meter vor dem Haus einparkte. Das war fast wie ein Lottosechser.

Dreizehn
    Paula und Kurt bummelten gegen elf zum vereinbarten Treffpunkt auf dem Rathausplatz, wo Clea und einige Freunde bereits Punsch schlürften. Markus hatte sie am frühen Vormittag angerufen. Einmal lehnte sie das Gespräch ab. Als er es jedoch ein zweites Mal versuchte, nahm sie ab, hörte ihm kurz zu – er erzählte ihr, dass er gerade in einer Autobahnraststätte einen Kaffee trinke und an sie denken müsse. Wahrscheinlich waren seine Frau und sein Kind gerade auf der Toilette. Und dass überhaupt mit jedem Kilometer, den er sich von ihr entfernte, die Sehnsucht größer wurde. Paula riss sich zusammen, um ihn nicht durch den Hörer zu würgen. Vor allem, als er ihr erklärte, dass sein Akku bald ausgehe und er das Ladegerät zu Hause vergessen habe – ach, wie ärgerlich. Damit brauchte er ihr dann auch keine weiteren Erklärungen zu geben, wenn er nicht mehr telefonisch für sie erreichbar war. Als sie aufgelegt hatte, flennte sie hemmungslos ob seiner Falschheit. Vor allem deshalb, weil sie einfach nicht nachvollziehen konnte, weshalb er das tat. War es wirklich so ein tolles Gefühl, jemanden, der einem vertraute, auf das Gemeinste zu hintergehen?
    Paula schlug sich tapfer in der weihnachtlich gestimmten Runde. Nur wer genau hinsah, konnte erkennen, dass ihre Augen etwas geschwollen waren. Aber kein Gejammer kam über ihre Lippen. Es war nicht ihre Art, ihr Privatleben in einer Gruppe auszubreiten. Noch dazu bei solch einem netten Anlass. Das tat sie nur im kleinen Kreis, und dazu hatte sie gestern ausgiebig Gelegenheit gehabt.
    Nach der Diskussion im Auto waren die drei noch lange in Paulas Wohnzimmer zusammengesessen. Paula hatte in Erinnerungen an Markus geschwelgt, hatte ihn im einen Momentin Schutz genommen, im anderen verflucht und die Welt nicht mehr verstanden. Kurt hatte ihr regelmäßig Taschentücher gereicht und Clea fütterte sie mit Schoko-Nuss-Keksen und Popcorn.
    Je mehr Paula nachdachte, desto mehr Puzzleteile passten plötzlich in das Bild des Ehebrechers: Wie sie ihn im Shoppingcenter angerufen hatte und er so kurz angebunden war. Angeblich wegen der Arbeit, tatsächlich wohl eher, weil seine Frau und sein Kind in der Nähe waren. Und dann diese Geschichte mit seinem Mitbewohner, der immer etwas brauchte oder die Schlüssel vergessen hatte, nur damit er rechtzeitig fortkam. Warum hatte sie nie Verdacht geschöpft? Was war sie für eine dumme Gans gewesen – wenngleich Gänse nicht dumm sind –, also eher eine dumme Frau. Wenn sie alles zusammenfasste und entsprechend interpretierte, dann war es offensichtlich, dass er sie von Anfang an belogen und betrogen hatte.
    Benommen von den Nachwirkungen des Beerenpunsches, dem aufwühlenden Erlebnis und den stundenlangen Gesprächen mit den Freunden war Paula irgendwann auf der Wohnzimmercouch weggedöst. Dort war sie morgens um sechs aufgewacht, frierend und mit dem Wissen um die genaue Lage jedes einzelnen ihrer Wirbelsäulenknochen. Das Einschlafen wollte nicht mehr klappen, zu viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum. Also nahm sie ein heißes Bad und ging danach los, um Semmeln zu holen. Der Spaziergang an der frischen Luft tat ihr gut und reinigte die verstopften Ganglien ein wenig vom Gedankenmorast. Der Schnee war nicht vollständig

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