Schärfentiefe
Rücken und Seitenpartien der vor und neben ihr Gehenden versperrten den Blick auf alles, was weiter entfernt lag, auch auf die festlich dekorierten Schaufenster. Besonders eng wurde es im Umkreis der Glühweinstände, wo sich die schiebenden Massen mit den fix positionierten Menschentrauben vermengten. Paula war froh, als sie beim Michaelerplatz endlich in eine Seitengasse einbiegen konnte, die etwas außerhalb der Hauptströmung lag. Nur schnell nach Hause.
Das Gespräch mit Gerlinde Wagner hatte ihre Stimmung gedrückt. Die euphorische Weihnachtsfreude, die sie am Vormittag erfüllt hatte, war verflogen. So war das mit den Stimmungen. Paula bewunderte diese menschlichen Felsen in der Brandung des Alltags, die sich ungeachtet aller Unbill immer auf einer neutralen Linie zu bewegen schienen. Kurt fiel ihr da ebenso ein wie Clea. Mit ihrer Freundin ging nur manchmal das cholerische Temperament durch, und das war dann auch nicht das Gelbe vom Ei. Ja, und Markus natürlich, den sie in den vielen Wochen noch nie unfreundlich oder niedergeschlagen erlebt hatte, obwohl gerade er einen Beruf ausübte, in dem er unablässig mit negativen Informationen bombardiert wurde.
Markus. Genau. Ihn wollte sie jetzt sprechen, seine Stimme hören. Vielleicht konnte er ihr raten, was sie tun sollte: War es ihre Pflicht und hatte es Sinn, die Polizei zu informieren? Sollte sie die bürokratischen Hürden und Befragungen über sich ergehen lassen? Auch auf die Gefahr hin, als paranoide Idiotin dazustehen, falls eine neuerliche Untersuchung den Verdacht nicht bestätigen würde?
Markus hob nach dem ersten Läuten ab. Im Hintergrund hörte Paula Weihnachtsmusik, wie sie für große Kaufhäuser typisch war.
„Hi, ich kann nur ganz kurz. Ich bin gerade bei einer Besprechung. Wie geht’s dir?“
„Mir geht’s gut. Was für eine Besprechung hast du denn in einem Kaufhaus?“
„Was für ein Kaufhaus? Wieso? Ähm … ach so, die haben hier in der Shopping City Süd eine Weihnachtsmodenschau. Lauter Kinder als moderne Engerln verkleidet, sieht total süß aus. Und jetzt machen wir gerade einen Presserundgang. Das Übliche halt. Pseudoevent, viel PR, wenig Inhalt.“
„Sag, sehen wir uns noch, bevor du nach Tirol fährst? Das Christkind hat ein Päckchen für dich abgegeben, das du unbedingt noch vor deiner Abfahrt bekommen solltest.“
Im Hintergrund hörte Paula Kindergebrüll.
„Paula, du darfst nicht enttäuscht sein, aber es wird sich nicht mehr ausgehen. Der Weihnachtstrubel hat auch mich überrollt. Ich bin schon froh, wenn das alles bald wieder vorbei ist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich auf den Jänner freue, auf die Zeit mit dir. Völlig entspannt, nicht mehr so viele dämliche Termine wie derzeit. Das wird schön. Ich vermisse dich schon so.“
Paula war wie vor den Kopf gestoßen. Damit, dass sie Markus vor seiner Abfahrt nicht mehr sehen würde, hatte sie nicht gerechnet. Kurz, ja. Aber gar nicht, nein. Nun konnte sie ihmdas vielsagende Weihnachtsgeschenk nicht überreichen. Damit ging die Pointe völlig verloren.
„Ich vermisse dich auch. Ach, komm doch vorbei, wenigstens auf ein paar Minuten. Bei mir hat sich so viel getan, und ich möchte so gern mit dir sprechen und deinen Rat hören. Es wäre wirklich wichtig für mich.“
„Paula, bitte mach es mir nicht schwerer, als es ist. Glaub mir, ich würde viel lieber mit dir den Tag verbringen als bei dieser dämlichen Veranstaltung …“ Die letzten Worte hatte er ins Handy geflüstert und dann blieb er bei dieser Lautstärke. „Aber ich habe keine andere Wahl. Job ist Job, und morgen früh um fünf Uhr muss ich losfahren. Bis dahin muss ich diesen Artikel abliefern und alles andere fertig bekommen. Am Abend muss ich packen. Aber Silvester ist fix. Da komme ich nach Wien.“
Bevor Paula antworten konnte, flüsterte Markus: „Paula entschuldige, ich muss jetzt aufhören. Grad geht die Veranstaltung weiter. Ich melde mich später noch bei dir.“ Und weg war er.
Als sie aufgelegt hatte – ihre Laune war nun noch um einige Grade gesunken –, rief Clea an. Ungeduldig wie immer.
„Paula, wo bist du denn?“
„In der Stadt. Was gibt’s?“
„Komm rasch heim. Ich hab was für dich.“
„Bist du in deiner Wohnung?“
„Nein, ich sitze hier unten bei deinem Computer und habe die E-Mails abgerufen, weil ich neugierig war. Du wirst es nicht glauben, aber da hat tatsächlich jemand zurückgeschrieben.“
„Du meinst aber nicht wegen des
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