Schärfentiefe
wirst. In den Sechzigern wurden manche Themen in den Zeitungen nicht einmal erwähnt. Aber nützt es nichts, schadet es nichts.“
Kluge Clea. Schade, dass PCs noch nicht Blumengießen konnten. Oder? Konnten sie? Aber Paula hütete sich, diesbezüglich eine Anspielung zu machen. Zum einen, weil es Clea sehr unangenehm war, dass sie Paulas Pflanzen schon zweimal vernichtet hatte, zum anderen, weil sie ihr dann neuerlich einen Fachvortrag gehalten hätte, und darauf hatte sie im Moment keine Lust.
Viel lieber resümierte sie: Sie hatte in nur zwei Wochen herausbekommen, dass Urban ein Doppelleben geführt hatte, und es bestand der Verdacht, dass er ermordet worden war. Sie hatte seine frühere Assistentin Gerlinde Wagner gefunden, mit einem seiner Freunde – Konrad Blesch – gesprochen, einen weiteren Bekannten in einem Seniorenheim ausfindig gemacht, und nun kannte sie auch den Namen der blonden Frau, mit der er sich in den sechziger Jahren herumgetrieben hatte. Das waren ganz schön viele Rechercheergebnisse in so kurzer Zeit.
Grundsätzlich wäre Santo begeistert gewesen ob so viel Engagementsseiner ehemaligen Mitarbeiterin. Aber sie würde sich, zumindest im Moment, hüten ihm davon zu erzählen. Schließlich waren die Ergebnisse für eine Ehrenbiografie völlig unbrauchbar. Leere Kilometer, sozusagen.
Plötzlich sprang Paula wie von der Tarantel gestochen auf und lief zu dem Regal, in dem sie ihre Schallplattensammlung aufbewahrte.
„Was ist los?“ Clea sah ihr skeptisch zu.
Paula hatte sich vor dem Schrank hingehockt und sah hastig einen Teil der Hüllen durch. Es war schon eine Weile her, dass sie diese Schallplatten gehört hatte. Vor gut einem Jahrzehnt war sie mit einem begeisterten Klassikfreak nach Budapest gefahren. Er hatte sie von einem Schallplattenladen zum nächsten gezerrt und so konnte sie unzählige klassische Aufnahmen um einen Spottpreis erstehen. Viele standen noch originalverpackt im Regal, das Paula gerade durchsuchte.
„Da ist sie!“ Paula hielt triumphierend eine der Plattenhüllen in die Höhe. Das Foto auf dem Cover zeigte eine blonde Frau, die an einem Flügel saß und ihre Finger über die Tasten gleiten ließ. Es war Elsa Tin.
Sie öffnete das Plastik, nahm die Platte aus der Hülle und legte sie vorsichtig auf den Drehteller. Feierlich hob sie die Nadel auf die Schallplatte, um keine Kratzer zu machen. Allein dieses Zeremoniell konnte nicht mit dem „on“-Knopf eines MP3-Players konkurrieren, dann noch der warme Ton und dieses leise Rauschen. Eine Weile lauschte sie versunken den Klaviersonaten. Paula hatte sich nicht getäuscht. Die fixe Idee, dass sie die Frau schon einmal gesehen hatte, war keine Einbildung gewesen. Sie hatte sie immer vor der Nase gehabt.
Clea, Kurt und Paula hatten beschlossen, am letzten gemeinsamen Abend in Wien auf den weiter entfernt gelegenen Weihnachtsmarkt vor dem Schloss Schönbrunn zu fahren. Doch der Weg lohnte sich immer: Das Weihnachtsdorf vor der imperialen Kulisse hatte den Ruf, das schönste zu sein, mit seinen unzähligen Ständen, bei denen geschmackvolles Kunsthandwerk und kulinarische Schmankerln wie heißer Eierlikör- oder Mozartpunsch, Lebkuchenschmarren, heiße Ofenkartoffeln und vieles mehr angeboten wurden. Als sie ankamen, spielte auf der Bühne vor dem hell erleuchteten Weihnachtsbaum eine Gospelkapelle.
Paula, die in der Regel Früchtepunsch trank, wählte diesmal die hochprozentige Variante aus Beeren, die so gut schmeckte, dass sie bald am zweiten Häferl nippte. Schön warm war es ihr geworden und die Hintergrundmusik verschwamm in ihren Ohren. Oder machten die Musiker gerade eine Pause? Es war ihr egal, denn sie summte zufrieden „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“ vor sich hin. Das melodisch-melancholische Motto der Strauß’schen Fledermaus ließ sich nach Lust und Laune anwenden. Wozu sich mit trüben Gedanken belasten, wenn es ohnehin nichts half?
„Ich wusste gar nicht, dass du ein Faible für Operetten hast.“ Kurt entging nichts. Paula nach zwei Beerenpunsch auch nicht.
„Ja, schon. Ich mag dieses bunte Treiben auf der Bühne. Den für manche vielleicht banalen Singsang. Diese beschwingten Melodien kann man nun mal so schön nachträllern. Und dann diese theatralischen Einlagen mit den witzigen Dialogen und natürlich dieses ganze Kuddelmuddel an Verwechslungen. Ganz anders als bei der Oper, wo immer alles so tragisch ist.“ Sie kicherte vor sich hin; der Beerenpunsch tat
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