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Schärfentiefe

Titel: Schärfentiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: I Mayer-Zach
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weggeschwemmt worden, aber er hatte seine knisternde Konsistenz verloren und war matschig. Zynisch zwinkerte die Sonne zwischen den kahlen Ästen der Bäume hervor.
    Das Mittagessen und den Nachmittag verbrachten Paula und Kurt bei seiner Schwester, die schon seit Jahren keine Lust mehr verspürte, ein Weihnachtsgesicht aufzusetzen und amHeiligen Abend mit Kind und Kegel zu den Eltern zu fahren. Kurt hatte es heuer zum ersten Mal gewagt sich auszuladen. Aber die befürchteten Litaneien seiner Mutter waren ausgeblieben, und nun fragte er sich, weshalb er so lange damit gewartet hatte. Nach der Bescherung, die wegen der Kinder von Kurts Schwester schon am frühen Nachmittag stattfand, fuhren sie zu Paulas Eltern, die ein Haus bei Krems an der Donau hatten.
    Paulas Vater, Edgar, nahm sich neben der quirligen Eleonora, die emsig zwischen Küche und Wohnzimmer hin- und herlief, ständig ein Tablett oder eine Schüssel in Händen, wie ein gemütlicher Bär aus. Er war ein groß gewachsener Mann Mitte sechzig, mit dichtem, weißem Haar. Alles an ihm war rund, aber nicht fett: sein Gesicht, seine Augen, die Form der Augenbrauen, seine Pausbacken, die aufgrund des vielen Lachens schon glänzten.
    Sein Wohlstandsbäuchlein, das ihn sofort als Genießer enttarnte, wurde von einer dunkelroten Strickweste gewärmt, unter der ein hellblaues Hemd zum Vorschein kam. Die Beine des ein Meter achtzig großen Mannes steckten in braunen Cordsamthosen, was seine bärenhafte Erscheinung noch unterstrich.
    Zur Begrüßung hatte er Prosecco mit Holundersaft vorbereitet. Dazu aßen sie Weihnachtskekse und genossen die Ruhe vor dem Sturm. Dieser traf knapp nach sieben Uhr in Gestalt von Tante Irma ein.
    „Ja, wen sehe ich denn da? Das ist ja eine Begegnung der ganz seltenen Art“, wurde Paula von ihr begrüßt. Das letzte Treffen war Jahre her. Das war auch gut so.
    „Die jungen Leute heutzutage haben ja keine Zeit mehr für die ältere Generation. Ich kann es ja verstehen: Es ist sicher weniger lustig mit einer alten Dame zu plaudern, als in einem Lokal herumzulungern.“
    Insgeheim gaben ihr alle recht, vor allem, wenn Tante Irma die alte Dame war, aber jeder von ihnen behielt seine Meinung tunlichst für sich und widmete sich artig dem eingetroffenen Gast. Paula stellte Tante Irma Kurt vor, und diese musterte ihn von oben bis unten und fixierte seine dunklen, lockigen Haare. Wenn man sie so sah, weißhaarig und rundlich, hätte sie als barocker Weihnachtsengel durchgehen können. Wenn da nicht dieser bitterböse Zug um den Mund gewesen wäre, der sich über die Jahre eingegraben hatte, und die zusammengekniffenen Augen, mit denen sie ihre Umwelt misstrauisch beobachtete.
    Als sie ins Wohnzimmer gingen, flüsterte sie Paula so laut, dass es jeder hören konnte, zu: „Hat der Bursche Zigeunerblut in den Adern?“
    Paula hatte keine Ahnung, ob unter Kurts Vorfahren Zigeuner waren oder nicht. Das hatte sie noch nie interessiert. Aber Tante Irmas rassistische Tendenzen waren nichts Neues, und so konnte sie einer aufkeimenden Bosheit nicht widerstehen:
    „Ganz recht, Tante Irma. Er ist ein Lalleri.“
    „Ein was? Ein Hallodri?“
    „Das möglicherweise auch. Aber er ist ein Lalleri, das ist eine Gruppe der Roma, die vorwiegend in Österreich und den Staaten des ehemaligen habsburgischen Großreichs lebt.“
    „Ja, alles wird von denen unterwandert.“
    „Tante Irma, du weißt aber schon, dass wir mittlerweile eine Republik sind und keine Habsburgermonarchie? Und was ich noch vergessen habe zu erwähnen: Kurt ist schwul.“
    Kurt drehte sich weg, damit Tante Irma, die ihn schockiert ansah, sein Grinsen nicht sehen konnte. Während des Singens unter dem Weihnachtsbaum stellte sie sich so weit wie möglich von ihm weg.
    Die Geschenke kamen gut an. Eleonora ließ es sich nicht nehmen, das Twinset sofort anzuziehen, das ihr auch wieangegossen passte. Edgar probierte am Fernrohr herum, inspizierte damit den Raum, fixierte verschiedene Gegenstände, kicherte, schließlich nahm er Tante Irma aufs Korn, erstarrte und legte es wieder ordentlich in die Verpackung zurück. Paula bekam von den Eltern einen Kochkurs geschenkt. Tante Irma hatte drei Pakete mitgebracht. In jedem befand sich dasselbe: Kaffee und eine Bonbonniere, wobei die Verpackung verriet, dass sie sich bei einem Diskonter in Unkosten gestürzt hatte.
    Wie erwartet war Tante Irma von der Shlomo Mintz-CD angetan. „Der kann was“, bestätigte sie. „Es kann halt keiner was für

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