Schafkopf
er zu finden gehofft hatte: das Hüttenbelegungsbuch. Er hatte zwar angerufen, unter anderem Namen, doch für das, was er vorhatte, musste er sichergehen. Für die morgige Nacht kein Eintrag.
»Und morgen haben Sie keine Gäste?«, fragte er den Hüttenwart, als er wieder hinaustrat. Er hatte sich das Buch sehr genau angesehen.
»Nein, niemanden. Aber das Wetter wird ja auch schlecht. Schauen Sie, es zieht sich schon zu. Da scheut man den Weg hinauf. Das ist kein Spaß bei Nebel und Regen.«
»So ganz allein hier oben: Hat man da keine Angst?«, fragte der Mann wie im Spaß.
»Ach Quatsch«, antwortete der Hüttenwart. »Vor was? Ich werde die Zeit genießen! Zum ersten Mal völlig allein.« Glaubhaft war das, so wie er es sagte. »Und Sie, welchen Weg gehen Sie?«
»Ich will noch hinüber zur Ribia und morgen nach Vergeletto. Dann muss ich wieder ins Tal und zurück nach Deutschland, zur Arbeit. Sie ruft.«
»Ein schöner Weg hier oben über den Pass di Doia und drüben an der Alpe di Doia vorbei. Aber kein Spaß bei diesem Wetter.« Er deutete hinaus. Binnen Minuten war das gesamte Gelände zugezogen, lag in den Wolken. »Heute wird es jedoch noch nicht regnen, es zieht sich bloß zu. Morgen allerdings kann es schon anders werden. Es kommt, wie es kommt, egal. Grüßen Sie mir drüben den Senn. Und schauen Sie bei ihm hinein! Sein Käsekeller ist wirklich sehenswert. Auch wie er lebt. Das ist eine andere Zeit.« Der Hüttenwart zeigte zum Berg hinauf, der sich in einer Wolkenlücke zeigte. »Ach ja, droben kommen Sie auch noch am See vorbei. Halten Sie da mal die Füße rein, oder nehmen Sie ein Bad, falls es wieder aufklart! Kalt zwar, aber es lohnt sich. Und die Fische knabbern Ihnen die alte Haut ab. Na denn, guten Weg!«
»Ja, schöne Zeit noch hier oben!«
Sie gaben sich die Hand.
Dann ging der Mann davon, hinauf in Richtung Wald. Eine Zeit lang hörte man noch vereinzelt das Knirschen von Steinen durch seinen Schritt, dann war es wieder still. Alles vom Nebel verschluckt.
Durch lichten Wald ging es auf Pfaden zwischen niedrigem Blaubeergestrüpp, über Felsbrocken und loses Gestein hinauf zum See. Kein Mensch begegnete ihm. Still lag droben das kalte Wasser auf fast 2000 Metern Höhe. Felswand und Himmel spiegelten sich. Die Wolken waren wieder aufgerissen, nur weiße und graue Fetzen trieben vorbei. Nach einer Stunde war er am Pass di Doia, sah unten die Hütte liegen, spielzeugklein. Dann ging es über den Südhang hinab über steile und grüne Wiesen. Die Südseite hier war viel lieblicher als die schroffe im Norden. Der Mann ging zügig auf dem ausgetretenen Pfad. Öfter sah er ins Gelände, prüfte. Aber er hatte keinen Blick für den Adler, der hoch in der Luft über ihm querte, und auch die Murmeltiere nahm er nicht wahr, die in den Geröllhalden pfiffen. Das alles war ihm nicht wichtig. Sein Ziel war allein die Ribia, eine unbewirtschaftete Hütte. Er würde allein sein dort, hoffte er, denn die Hütte lag einsam weit ab und man erwartete schlechtes Wetter. Es zog auch immer mehr zu. Immer wieder trieben dicke Wolkenschwaden vorbei und verschluckten für Momente die Landschaft, dann riss es wieder auf, mal hier, mal da. Ideal für seinen Plan.
Entlang des Molinera und der Hänge des Cima di Catögn, des höchsten Berges im Umkreis, erreichte er mit der Dämmerung sein Ziel. Es war eine anstrengende Tour gewesen, doch er war tatsächlich allein. Nur eine Herde Schafe lagerte. Sie bewegten sich frei hier oben, wurden von niemandem beaufsichtigt oder bewacht. Er machte sich Feuer, denn die Nacht würde kalt werden. Die Schafe stöberten an seinem Rucksack, er verjagte sie. Doch die Tiere waren lästig. Kaum wendete er sich von ihnen ab, kaum zeigte er ihnen den Rücken, waren sie schon wieder am Werk. Sie hatten hier nichts zu fressen und sahen ihm dabei zu, wie er aß. Er warf Steine, erst kleine, dann etwas größere. Er zielte immer auf einen Kopf, und wenn er traf, machte es plopp. Ein hohles Geräusch. Dann wichen die Schafe zurück – um gleich darauf wieder nachzurücken. Der Mann bekam Wut, die Steine wurden größer. Aber es half nichts. Irgendwann griff er sich einen Stock, sprang auf, sprang Richtung Schafe und schlug auf Steine und Boden. Er hörte sich schreien. Da endlich wichen die Schafe zurück, das Rudel wendete und trabte in den Nebel davon. Jetzt würde er endlich Ruhe haben. Der Mann legte den Stock beiseite und sah, dass er blutete. Er wusste nur nicht wovon, spürte
Weitere Kostenlose Bücher