Schafkopf
über die vielen, steilen Hänge. Damals seien die Menschen noch arm gewesen und hätten keine Wahl gehabt. Der Anwalt nun baue, so erzählen die Frauen, hier oben Haus für Haus wieder auf, für sich und seine Freunde – und wecke damit den Neid im Tal, bei den Nachkommen der alten Besitzer. Denn jetzt verstünden sie, was ihre Vorväter abgegeben hätten. Die Arbeit aber sähen sie nicht. So gebe es immer wieder Gezänk, sie wollen das Terrain zurück. Für Sommerfrischen für sich und zum Vermieten.
Die kleine Kirche zeigen ihm die Frauen zuerst. Sie war auch das erste, was der Rechtsanwalt aufgebaut hat. Ein kleines Gebäude, Granit, im Inneren mit viel Weiß und Holz, sehr licht. Anthroposophisch wirkt es auf ihn, eine Gruppe Künstler hat es bis vor Kurzem bewohnt, sie waren hier oben zum Malen. Jetzt sind sie wieder abgereist, und der Kirchraum steht leer, nein: ist unbewohnt.
Eine der Frauen, auch das alles erfährt er hier, ist schon seit Jahren hier oben, immer während der Sommermonate. Sie trainiert, Berg- oder Ultramarathon. Mehr als 80 Kilometer Laufen im Gebirge. Eher Rennen. Die andere kümmert sich um Hühner und Ziegen. Den Ziegenkäse probiert er. Dann macht er sich wieder auf, denn der Weg ist noch weit.
Kurz darauf, den Berg hinauf, quert er die Rotonda, eine weitere Ansammlung kleiner, verstreuter Häuschen auf einer größeren Lichtung. Ferienhäuser der Einheimischen, die meisten davon neu. Ganz anders als auf der Soladino. Vereinzelt wirken sie bewohnt, er trifft jedoch niemanden an. Dass er gesehen wird auf seinem Gang, nimmt er nicht wahr. Neto, ein Einzelgänger, bemerkt ihn, als er in seiner Hütte Wäsche wäscht. Er ist ein Gehilfe der Jäger. Auch er lebt im Sommer hier oben, und das schon seit vielen Jahren. Niemand kann sich hier bewegen, ohne dass Neto ihn sieht. Er kenne jede Gämse mit Namen, sagt man von ihm. Auch, dass er schon Jagdhütten gesprengt habe von heimlich Wildernden aus dem Nachbartal. Um Neto gehen viele Gerüchte.
Am frühen Nachmittag, zwei Stunden später, erreicht der Wanderer sein Ziel, die Capanna Alzasca, eine Hütte des Alpenvereins. Hineingeschmiegt in eine große Lichtung mit freiem Blick nach Osten, ins Tal, ducken sich hier in 1760
Metern Höhe zwei niedrige, steinerne Häuser mit granitenen Tischen davor. Einladung zum Bleiben und Leben. Frieden geht von diesem Areal aus, Geborgenheit, Seelenwärme. Waagerecht zieht sich die Rauchfahne des Holzherdes über die Wiese vor dem Haus, dann fällt sie mit dem Hang talwärts ab und verteilt sich. Drüben hellgrün der Lärchenwald.
Er sei der einzige Besucher, der erste heute aus dem Tal, erfährt er vom Hüttenwart, der vor der Hütte steht und raucht, ihn begrüßt. Die Gäste der vergangenen Nacht seien längst schon aufgebrochen, es seien auch nur vier gewesen. Erst am späten Nachmittag erwarte er die ersten zur Übernachtung, auch wieder nur vier. Von Someo herauf sollten sie kommen, den gleichen Weg wie er.
Im Brunnen neben der Hütte stehen Getränke. Limonaden, Wein, Bier, gekühlt vom Wasser aus dem Berg. Der Wanderer schenkt sich ein Weizenbier ein und plaudert mit dem Wirt. Er sei alleine hier oben, zwei Wochen im Jahr, nun schon zum dritten Mal. So sei das auf dieser Hütte: Freiwillige oder Ehrenamtliche, die Lust darauf haben und Kochen können – ja, das werde geprüft! – wechselten sich hier oben alle zwei Wochen ab. Bekämen den Proviant und versorgten damit die Gäste. Drei Gänge am Abend seien Pflicht, er selber serviere meist fünf, gestern Abend seien es sogar sechs gewesen. Ja, das sei anstrengend, doch ideal, um einmal völlig aus der Welt zu sein, schildert der Hüttenwart. So plaudern sie scheinbar belanglos dahin. Wie oft der Hüttenwart das seinen Gästen wohl schon erzählt hat? Es klingt immer noch echt. Er genieße die Zeit hier oben, ausgeblendet von allem und jedem.
Was er denn mache, sonst, im richtigen Leben?
Er sei in der Werbung, mache Kampagnen in einer großen Agentur. Weltweites Netzwerk, weltweite Kunden, Headquarter Paris. Er selber aber arbeite in München. Ein herrlicher Job, der schönste der Welt. Nur leider keine Zeit nebenher. Das Leben geht dir verloren bei 60 Stunden und mehr in der Woche. Deshalb sei das hier oben so schön. Die Welt dort unten lasse man hinter sich. Drunten im Tal, weit weg hinter den Bergen.
Alles stimmte. Das war der, den er suchte. Unser Mann ging nach hinten zur Toilette, und auf den hinteren Tischen der Hütte fand er, was
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