Schafkopf
weiteren Morden zu rechnen?«
»Ganz klar, ja. Insider, also Personen, die die Sprache des Täters verstehen, werden jetzt Angst bekommen. Und zwar hoffentlich. Denn dann melden sie sich vielleicht bei der Polizei. Das aber ist nur die eindimensionale Sichtweise. Die mehrdimensionale ist leider sehr viel komplizierter. Und deshalb vermute ich auch, wie ich eingangs gesagt habe, dass der Täter hochintelligent ist: Der Täter setzt bewusst ein Zeichen, das viele Sprachen spricht. Das in viele Richtungen weist. Weil er mit vielem unzufrieden ist und vieles aufgedeckt sehen möchte. Der 1. FC Nürnberg – und wer weiß, was dahinter steckt; vielleicht Fußball ganz allgemein, mit all seinen Veränderungen; vielleicht Spielervermittler, Wettgeschichten, was weiß ich. Oder Savitas – also die Atomwirtschaft generell, die ja absolut nicht sauber ist. Oder die Nazis, Neonazis und das Gesocks; Waffenproduktion beziehungsweise Rüstungsindustrie … Bei einer derart vielschichtigen Botschaft muss, das ist meine Einschätzung, fast zwingend mit einem oder mehreren weiteren Morden zu rechnen sein. Der Mörder will ja mit der Sprache raus. Das fordert seine Seelenhygiene.«
Behütuns dachte nach und schwieg.
Dass der Psychologe mit seiner Einschätzung der Dinge sehr viel früher recht bekommen würde, als beide befürchteten, konnten sie da noch nicht ahnen.
Wenn man am Ufer der Seine entlanggeht,
zieht all das seine Aufmerksamkeit auf sich, was sie
befördert. Beim Anblick der Hundeleichen ...
Emmanuel Bove
11. Kapitel
Am nächsten Morgen, früh, kurz vor fünf. Frau Pfannenmüller, Wirtin des gleichnamigen Gasthofes in Oberndorf bei Erlangen, lässt endlich ihren Schäferhund hinaus. Seit über zwei Stunden schon hat er gewinselt und immer wieder an der Tür gekratzt, zwischendurch auch einmal, wie auffordernd, kurz gebellt. Dieses hohe, spezielle Bellen. Schließlich hat sie es nicht mehr ausgehalten, ist aufgestanden und hat ihn hinausgelassen. Schlafen konnte sie ohnehin nicht mehr. Endlich draußen vor der Tür aber bleibt der Hund nur stehen und hält, den Kopf hoch, leicht schräg, die Schnauze in den Wind. Schnuppert. Und winselt wieder. »Jetzt hau schon ab, geh kacken!«, schickt Regine Pfannenmüller das Tier weg, leicht unwirsch im Ton. »Hast mich jetzt zwei Stunden genervt« und »Blödmann«, wirft sie ihm noch halb zärtlich hinterher. Der Hund bewegt sich, als wäre er unentschlossen, ein paar Schritte über die Gästeterrasse in Richtung Weiher, dann bleibt er wieder stehen. Sieht sich nach ihr um, bellt sie an, bewegt sich ein paar Schritte. Fordert sie auf. Doch Regine Pfannenmüller ist nicht bei ihm, sie ist bei sich, beim Licht des anbrechenden Tags. Was für ein herrlicher Morgen! Barfuß und in ihrem Pyjama geht sie die paar Schritte zum Hund. »Na, was ist denn«, ihre Hand streicht über seinen Kopf. Für den Hund ist sie jetzt nicht da. »Ach, Rex«, ein klassischer Schäferhund. Doch eigentlich ein Mischling. Tiefschwarzes Rückenfell, hochstehende Ohren, schwarze Augen. Angespannt bis in die Vorderpfoten, leicht seitlich im Gang. Ein Wolf. Rex bewegt seinen Kopf noch einmal fast auffordernd und winselt kurz. »Ach, geh schon«, weist Regine Pfannenmüller ihn an. Einen Moment denkt sie darüber nach, sich auf die Stufen zu setzen, die von der Terrasse hinunterführen unter die Bäume, es ist so schön heute; so selten, ein solcher Morgen; doch dann sagt sie sich: »Wenn ich schon einmal um diese Zeit draußen bin …«, und geht die drei, vier Stufen von der Terrasse hinunter, unter den Weiden hindurch, an den Biergartentischen vorbei die paar Schritte durchs Gras an den See. Den Weiher, wie er genannt wird. Sie setzt sich auf die alten, inzwischen unregelmäßig schiefen Betonstufen, die sich dort am Ufer befinden. Alte Anlegestelle, auch einmal Einstieg gewesen in den See und bis heute noch Ort für die Fischkästen. Sie setzt sich dorthin, denn der Platz liegt schon in der Sonne.
Goldgelb leuchtet die Oberfläche des algengrünen Wassers im flachen Gegenlicht. Die Sonne steht noch ganz tief. Und schon die ersten Fliegen. Auf dem See keine einzige Bewegung. Wie lange habe ich hier so schon nicht mehr gesessen, denkt sie sich. Dabei könnte ich das jeden Tag …
Regine Pfannenmüller rückt zwei Stufen tiefer, stellt ihre Füße bis an die Knöchel ins Wasser. Drüben springt ein Karpfen. Ein lautes Platsch. Ringförmig breiten sich die Wellen von dort aus und verebben nach und nach.
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