Schafkopf
Vergehen. Die Autobahn drüben, die das Regnitztal entlangführt, ist um diese Zeit noch sehr ruhig. Erst gegen sechs schwillt der Verkehr an. All die Menschen, die nach Erlangen, nach Nürnberg oder Fürth zur Arbeit fahren. Aggressiv ist das Brummen des Verkehrs dann, die Luft geladen von unruhigem, drängelndem Lärm. Wie ein Schwarm losgelassener Hornissen – dabei sind gerade Hornissen nicht aggressiv. Egal. Es geht um das Gefühl. Allein über 70000 Autos fahren tagtäglich nach Erlangen, die anderen, die nach Nürnberg und Fürth, noch gar nicht eingerechnet. Ist das nicht krank? Und die meisten dieser Fahrzeuge fahren hier vorbei. Früher verlief dort, wo jetzt die Autobahn ist, der alte Kanal. Ihr Vater hat sich damals noch gegen den Bau aufgelehnt. Weil es Blaukehlchen gab am Kanal. Und Wasseramseln. Beide sind seither nicht mehr da, ihr Vater hatte recht behalten. Und trotzdem war es sehr ungewohnt, nicht »normal« gewesen, diesen alten Mann protestieren zu sehen, mit anderen Alten und Transparenten. Das taten damals nur die Studenten – alle links und »politisch«. Und die nahm hier keiner ernst, ganz im Gegenteil: Man schimpfte über sie. Und plötzlich protestierte ihr Vater …
Regine Pfannenmüller hat die Ellbogen auf die Knie gestützt, hält Kinn und Wangen in beiden Handflächen. Wie ein Mädchen fühlt sie sich jetzt. Erst gestern, auf der Fahrt durchs Nachbardorf, sah sie zwei Mädels auf dem Gehsteig sitzen. Zehn Jahre vielleicht, oder zwölf. Die saßen einfach so am Straßenrand, die Arme um die Knie geschlungen, und plauderten, lachend und aufgeregt. Die beiden waren sich einig und nah. Auch da hat sie dieses Gefühl gehabt, zumindest eine kurze Ahnung. Ein Anflug der Erinnerung. An dieses Alter, in dem die Welt einen trägt und die Zeit so lang ist. In dem die Wärme nur warm und der Sommer Sommer ist und schön. In dem man sich hineinredet in die Welt, sich hineinfasst, hineinfühlt. In dem man aufgehoben ist, aufgeht, sich vergisst. Warum ist das alles weg? Jetzt ist es beinahe wieder da …
Ja, hier gleich links neben der Treppe, über der Sandsteinmauer, wo jetzt das neue – aber was heißt denn neu? Es steht ja auch schon seit 20 Jahren! – Karpfenschlachthaus steht, war an der Wand früher die alte Dusche. Unsere Dusche. Die Kinderdusche. Ein Wasserhahn, ein Schlauch. Und wenn man aus dem Wasser gekommen ist nach dem Baden, hat man sich einfach abgespritzt. Damals standen auch noch Kühe im Stall. Und Schweine. Und Hühner liefen herum. Keinen Menschen hat das gestört, denn es war halt so. Doch der Stall ist jetzt weg, ist jetzt Wohnhaus. Und hier rechts, dort drüben, an der Stirnseite des Sees, stand damals unser Sprungturm. Ja, die Reste davon sieht man noch. Zumindest die alten Stützen. Das Dunkle zwischen dem Schilf. Ein Dreimeterbrett, von dem wir uns ins Wasser gestürzt haben. Immer und immer wieder. Mit Anlauf, und bei wem es am meisten spritzt. Und uns Mädchen haben die Jungen oft hineingeworfen. Einfach gepackt und gezerrt, und wir haben laut gekreischt. Grob waren die, aber schön war das. Wie eigenartig das doch in einem bestimmten Alter ist. Ja, und das einzige Mal in meinem Leben, dass ich je einen Köpfer versucht habe, war da. Genau so versucht, wie es die anderen gesagt haben. Gerade hinstellen, Arme über den Kopf nach oben ausgestreckt, die Hände wie ein Pfeil zusammen und dann steif bleiben, einfach nach vorne fallen lassen. Dann kann überhaupt nichts schiefgehen. Ging es aber. So schief, dass ich es nie wieder versucht habe. Gesicht und Bauch habe ich mir geprellt. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Und die Schwiegeroma hat dort, wo heute das Schankfenster ist, Senfbrot verkauft. Und Schmalzbrot. 15 und 20 Pfennig. Die Brotscheiben vom Laib geschnitten mit der Hand, vorm Bauch. Richtig dicke Scheiben. Und das Mehl hing ihr immer am Kittel, ganz weiß war der. Mein Gott, ich denke schon wie die Alten! Und wie viele Kinder damals immer hier gewesen sind zum Baden. Den ganzen Sommer lang. Das war schön. Aber jetzt will ich das nicht mehr haben!
Die Zweige der Trauerweide hängen bis ins Wasser. Ein Eisvogel schießt über den See. Glitzernd blaugrün sein Gefieder. Dann macht er eine Kehre und zeigt seinen rostbraunen Bauch. Er ist also wieder da! Das ganze Jahr habe ich ihn noch nicht gesehen. Aber wann habe ich denn auch Zeit dazu? Ich sollte mir die Zeit einfach nehmen. Vielleicht wird das Leben dann langsamer? Da kommt der Eisvogel wieder und
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