Schafkopf
schlüpft in ein Loch in der Uferböschung, direkt gegenüber, nicht weiter als 15 Meter entfernt. Und dann noch ein zweiter. Nach einer Weile kommen beide wieder heraus. Sie füttern wohl ihre Jungen. Wieder pflatscht ein Karpfen. Hinter der Autobahn rollt ein ICE vorbei. Muss eine schöne Art sein zu reisen. Nach und nach nimmt Regine Pfannenmüller das wahr, was eigentlich immer da ist, sie aber sonst nie erreicht. Die Meise, die ganz leise knäckernd das Geäst der Weide abgrast nach Spinnen und kleinem Getier. Die Jungen, die von drüben ihr Frühstück fordern. Der Zaunkönig, der unglaublich laut herüberpfeift, als ob er sich beschwere, sich aber nur ganz kurz zeigt, kleine, warmbraune Kugel mit aufgestelltem Schwanz. Oder der Kleiber, der in den Nischen und Falten der furchigen Weidenrinde kopfüber das Frühstück für seine Familie sucht. Die Amsel, die … ach ja. So schön ist ihr Gesang. Aber sie singt ja gar nicht, sie sitzt nur still da und legt den Kopf schief, linst und scheißt. Die beiden habe ich schon früher immer verwechselt: Es ist ja die Grasmücke, die so schön singt. Nur vielleicht nicht ganz so bauchig. Oder kehlig. Auch vielleicht nicht ganz so breit in der Tonhöhe. Ein Wunder überhaupt, dass ich sie noch alle erkenne. Wie lange habe ich ihnen schon nicht mehr gelauscht! Oh wie arm ist doch so ein Leben. Und wie reich, wenn man einfach nur dasitzt.
Regine Pfannenmüller lässt die Stirn auf die Knie sinken und spielt mit den Händen im Wasser. Wie weich doch das Wasser ist. Jetzt kann sie auch die paar hartnäckigen Schwimmer verstehen, die, obwohl es das offizielle Bad nicht mehr gibt, trotzdem doch immer wiederkommen, um hier zu schwimmen. Warum gehe ich eigentlich nicht selbst hinein? Ich könnte das doch beinahe täglich. Dieser Weiher, nur 15, 20 Meter breit, dafür aber fast 500 lang, war, so sagte man, ein ehemaliger Arm der Regnitz. Früher, vor mehr als 100 Jahren, hat dieser Fluss wohl öfter mit den ein oder zwei jährlichen Hochwassern, die den breiten Wiesengrund überschwemmten, sein Flussbett verändert oder neu gesucht. Und dieses Stück Wasser ist dann irgendwann einmal übrig geblieben. Eigentlich ein großes Glück! Wenn man es denn zu nutzen versteht. Regine Pfannenmüller umspült mit den Händen ihre Fesseln. Lässt das Wasser über ihre Schienbeine laufen. Über die Waden. Dann stützt sie ihren Kopf wieder auf. Rex stupst sie von hinten an. Kaltfeucht seine Schnauze im Nacken. »Ach, lass«, sagt sie, »lass mich hier einfach sitzen.« Rex bellt sie kurz an, läuft los, bleibt wieder stehen, winselt. »Ach, Hund.« Mit einer Handbewegung nach hinten in die Luft wehrt sie ihn ab. Gibt ihm zu verstehen, er solle ruhig sein. Sie will noch einen Moment für sich. Über den Himmel zieht ein Falke, verfolgt von einem Schwarm Schwalben. Sie verteidigen ihre Brut, ihr Revier, greifen den Falken an. Im Sturzflug, von oben, von hinten. Dann drehen die Schwalben ab. Früher hatten wir ganz viele im Stall, als wir noch Kühe hatten und Schweine. Das geht alles nicht mehr mit der EU. Dürfen nicht mehr schlachten, haben kein Milchkontingent … weiter will sie hier nicht denken. Es geht auch nicht mehr mit der Arbeit. Das Gasthaus ist Arbeit genug. Wo die Schwalben jetzt wohl wohnen? Wahrscheinlich drüben beim Bauern, dessen Stall ist ja groß genug.
Regine Pfannenmüller will es nicht glauben: Sie fühlt sich glücklich – und hat Tränen in den Augen. Sie laufen ihr übers Gesicht. Sie schnieft, zieht den Rotz hoch. Wenn mich jetzt jemand hier sieht, denkt sie. Und alles nur wegen des Hundes. Was er nur hat? Rex stößt sie wieder von hinten an. »Ja, ja, mein Dicker, ich komme.« Sie reißt sich vom Weiher los, froh, da von den eigenen Tränen verunsichert, und folgt dem Hund ins Gras. Dorthin, wo er hingezeigt hat. Dorthin, wo früher der Badestrand war und die Liegewiese. Dorthin, wo jetzt das Gras hüfthoch steht, weil sie es nicht mehr mähen. Um die Badegäste abzuhalten und zu vergraulen. Was, bis auf die wenigen, die sich nicht abhalten lassen, ja auch gelingt. Zielstrebig führt der Hund sie durchs Gras, geht voran. Man hört das Rascheln der Halme, der Tau an den hohen Halmen macht ihre Beine nass, Grassamen hängen ihr an den Waden, eine Amsel ruft noch in den Morgen – oder war es doch wieder eine Mönchsgrasmücke? …
Dann hört man einen markerschütternden Schrei. Hysterisch, nicht mehr enden wollend. Dann ein großes Pflatsch. Regine Pfannenmüller
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