Schafkopf
generös. »Schreiben Sie 30«, hieß es dann großzügig am Flughafen, wenn die Uhr auf 26 zeigte, manchmal auch »35«. Also 60, 70 Mark. Das klang doch gleich viel besser! Dafür kann man schon mal früh um vier aufstehen, zumal man um sechs oder sieben vielleicht noch eine zweite Fahrt bekam, wenn die erste gleich so früh war. Danach war das Flughafengeschäft vorbei und die Arzt- oder Krankenfahrten setzten ein. Da war dann nicht mehr so viel zu holen. So aber hatte er es gern. Gleich zu Beginn eine Flughafenfahrt. Um vier hatte der Wecker geklingelt. Andere kommen da nicht aus dem Bett, Kroner aber hatte damit kein Problem. Er hatte sich einen Espresso gemacht, mehr brauchte er früh nicht, hatte sich ein Brot geschmiert und für später eingepackt, sich in sein Taxi gesetzt und war in Richtung Stadt gefahren. Er wollte zu seinem Standplatz. Der Morgenhimmel hellte sich hinten schon auf, der Tag schien wolkenlos zu werden und heiß. Noch aber war es angenehm frisch. Gerade war er aus dem noch kühleren Hangwaldstück herausgekommen, auf dem sich zum Höhenrücken hin nur noch eine Wiese erstreckte, darauf ein einzelner, gut doppelmannshoch dicker Eichenstumpf mit zwei, drei Aststummeln. Diesen Rest hatte man von einer kranken Eiche stehen lassen und gehofft, sie würde sich wieder erholen. Seit zwei Jahren aber stand dieser Stumpf jetzt kahl. Er würde wohl nicht mehr werden. Die Straße führte hier, an der Grenze von Wald und Wiese, nach rechts, am Waldrand entlang, links auf den Wiesen wuchsen Kirschbäume. Vorne kreuzte ein Reh, ein zweites folgte. Hier muss man immer langsam fahren um diese Zeit, mit seinem Motorrad war er einmal nur knapp einem Reh entkommen. Seither fuhr er hier vorsichtiger. Ist ein ganz schöner Schock, wenn so ein Tier vor dir über die Straße springt. Die Straße machte einen Bogen, über die Höhenkuppe hinweg, um dann auf der anderen Seite in den Wald einzutauchen. In Serpentinen ging es den Berg hinab in die Stadt – da hatte sich der Funk gemeldet. Einmal Bushäuschen am Eichenwald, Flughafenfahrt, der Gast warte dort. »57«, hatte Kroner sich sofort gemeldet – 57 war seine Taxinummer –, »bin am Waldkrankenhaus, in einer Minute da.« War ein klein wenig gelogen, er hatte noch gut zwei Minuten bis zum Waldkrankenhaus, aber sicher ist sicher, dachte er sich. Den Dreiß'ger hab ich schon mal. Dann bin ich bis halb sechs zurück, und wer weiß, vielleicht habe ich noch mal Glück?
Knapp zwei Minuten später lenkte Kroner sein Taxi in den Eichenwald, ein kleines, parkähnliches Stück Wald hier am Stadtrand, wo die Reichen ihre Villen hatten, und fuhr unten entgegengesetzt zur Fahrtrichtung beim Bushäuschen vor. Es war ja kein Verkehr. Ein schönes hölzernes Bushäuschen mit gerahmten Glasfeldern und Schindeldach. Original 1950er-Jahre. »Och, nee … – den? Das ist doch ein Joke, oder?«, dachte er, um sich sogleich selbst zu beruhigen, »na, der Fahrgast wird sicher noch kommen.« Er stellte den Motor ab, ließ das Fenster herunter und sah hinaus. Im Bushäuschen saß ein stadtbekannter Kranker. Tourette. Ein Lehrstück für dieses Symptom. Eigentlich eine arme Figur. »Am Arsch wichsen, am Aaaaarsch wichsen, am Aaaaaaaarsch wichsen«, leierte dieser zwanghaft herunter und wurde dabei immer lauter. Dann war er wieder still, schlug sich mit der Hand zwei, drei Mal unkontrolliert fahrig an den Kopf.
Dass den hier noch keiner weggeholt hat, dachte sich Kroner, hier, wo doch nur Reiche wohnen. Denn reich war gleichbedeutend mit empfindlich, empfindlich war gleichbedeutend mit »Dasgehtabergarnicht!«, das wiederum gleichbedeutend mit »Dasgehtabergarnichtundschongarnichthier!«, und das hieß nichts anderes als »Darufichdochmalgleichdiepolizeian«. Aber vielleicht sitzt er ja noch nicht lang da. So wie hier saß dieser Kranke auch oft in der Stadt, mitten auf dem Markplatz, auf einer Bank. Vor ihm Gekotztes und leere Flaschen. Ein hochgebildeter Mensch eigentlich, nur leider krank und dann auch noch sehr oft besoffen. Oftmals, wenn er nüchtern war, konnte man in Buchhandlungen auf ihn treffen, wo er dicke Folianten, meist wissenschaftliche Literatur, las und wo er sich auch mit den Käufern über die verschiedensten Themen unterhielt. Er wusste erstaunlich viel, brachte es aber nicht auf die Straße. Doch dann bekam er wieder einen Schub, referierte und brüllte sein »am Arsch wichsen« oder auch einmal »Scheißdreckspolizei« als Endlosschleife und trank in sich
Weitere Kostenlose Bücher