Schalmeienklänge
Pony stampfte, und Jorry strich ihm mit der Hand über den Hals. Er wirkte auf mich zu mager, zu verwahrlost, zu klein, unglaublich zerbrechlich.
»Hör mal«, sagte Jorry. »Eine Flöte!«
Aus dem Innern der Ställe kam ein Junge und spielte im Gehen auf einer selbstgemachten Flöte. Sie wirkte derb, war aus Holz geschnitzt und mit einem Schilfmundstück versehen, doch die Musik, die der Junge ihr entlockte, war erstaunlich. Die klagende, süße Melodie mit dem traurigen Unterton verdrehte einem den Kopf, weckte namenlose Sehnsüchte und entlockte den unbekannten Tiefen des Bewußtseins Bedauern um die namenlosen Dinge, die es nicht einmal kannte. Ein Knappe, der ein großes schwarzes Pferd führte, blieb stehen, um zu lauschen, und das Pferd hielt ebenfalls an. Jorry, der eine Hand auf Slippers Hals liegen hatte, verharrte reglos mit der Bürste in der anderen Hand und mit offenem Mund. Ich empfand den Zauber der Musik ebenfalls, und als sie verstummte und der Junge die Flöte sinken ließ, hätte ich gerne eine Münze besessen, die ich ihm hätte geben können.
»Du spielst mit großer Kunstfertigkeit«, sagte ich zu ihm.
»Ich weiß«, entgegnete er, grinste frech und lief davon, und seine bloßen Beine blitzten braun im Sonnenlicht; offenbar rechnete er gar nicht mit einer Belohnung für sein Spiel.
»Ich wünschte, ich hätte auch eine Flöte«, meinte Jorry.
»Vielleicht kann ich dir eine besorgen.«
»Würdest du das tun?«
»Ich werde es zumindest versuchen.«
»Dann… Mutter, wenn du dich um eine Flöte kümmerst, könntest du dann auch versuchen, ein kleines Schwert für mich zu beschaffen?«
Ich spürte, wie ich erstarrte.
»Ich bin alt genug, es zu lernen«, meinte Jorry, doch er schaute dabei noch hinter dem Jungen her, so daß ich nicht wußte, was er meinte: den Umgang mit der Flöte oder dem Schwert.
3
Und so standen wir am Abend wieder im Vorraum zum Großen Saal. Ich starrte die gleichen Wandbehänge an, und diesmal schien mir nicht der geringste Zweifel daran zu bestehen, daß es sich bei der schlecht gezeichneten silbernen Figur um einen enthaupteten Krieger handelte, der unter Schreien in seinem eigenen Blut gestorben war.
Ich hatte die Erste Phiole getrunken. Jorry saß still hinter mir und spielte mit dem geschnitzten Holzhund, den ihm ein Kind geschenkt hatte, das wir bei der Mittagsmahlzeit in der Küche getroffen hatten, der kleine Sohn einer Milchmagd, ein Kind mit mistverkrusteten Füßen und süßem Lächeln. Jorry hatte den Nachmittag bei den Kühen zugebracht und mir nicht viele Fragen gestellt. Ich hatte bewußt keines der beiden Kinder aus den Augen gelassen, was sie beide ärgerte, und der Nachmittag war ereignislos verstrichen.
Mochte der Abend ebenso ereignislos verlaufen! Der mürrische Bursche, der mir am Abend zuvor das Ende der Abendmahlzeit angekündigt hatte, kam diesmal nicht, vermutlich weil ich ihm kein Geldstück zugesteckt hatte. Ich versuchte selbst abzuschätzen, wann der König mich rufen würde und trank die Zweite Phiole.
Farben wurden heller, Geräusche lauter, mein Gleichgewicht geriet ins Wanken. Dann ließen alle diese Empfindungen nach, und nur eine hielt an, eine Spannung in einem einzigen, benommenen Moment, durchsetzt mit einem einzigen, schwer definierbaren Ton. Die Zeit hatte ausgesetzt, und an ihre Stelle war aus der zeitlichen Abstimmung geborene Musik getreten. Der einzelne Ton strömte um und durch mein Innerstes und strömte gleichzeitig überhaupt nicht, und ich wartete, um als Geschichtenspielerin zu Leuten gerufen zu werden, die jenen die Haut vom Leibe zogen, die in das Denken anderer eindrangen.
Oder jenen, die sie für solche hielten.
Diesmal stand der kleine Tisch schon bereit. Als ich den Raum betrat, verstummten die Gespräche und setzten dann wieder anders und leiser ein. Niemand näherte sich meinem Tisch so wie am vorangegangenen Abend. Ich konnte ihre Stimmung um mich her greifbar fühlen: Sie waren vorsichtig, aber noch nicht verängstigt.
Die Musik erfüllte mich noch stark, und ich gestattete mir einen Blick zu Rofdal, ehe ich begann. Massig saß er, in gelbe Seide gekleidet, in seinem Sessel, die kleinen Augen in seinem fleischigen Gesicht funkelten aufmerksam, aber nicht besorgt. Neben ihm saß Königin Leonore, die trotz ihrer Schwangerschaft nur halb so massig wirkte wie er. Sie hielt den Blick zu Boden gesenkt, und ich bekam nur einen flüchtigen Eindruck von glattem, dunklem Haar, das streng um
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