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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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dann wirst du Jorry niemals wiedersehen, ja du wirst nicht einmal erfahren, was ich mit ihm gemacht habe.«
    Ich erstarrte. In Brants Ton blieb kein Raum zum Handeln, keine Möglichkeit zu Bitten. Einen lebhaften Augenblick lang kam es mir so vor, als wäre das alles bereits eingetreten, daß Jorry mir für schmerzerfüllte, leere Jahre verloren wäre, als hätte ich endlose Landschaften durchsucht und in die Gesichter von Tausenden von Menschen geschaut und mich verwundert gefragt, ob irgendeiner meinen Sohn kannte, mein Sohn war oder Leute kannte, die wiederum meinen Sohn kannten. Der Boden schwankte unter mir, und als Brant von mir herunterstieg und mich auf die Beine zerrte, folgte ich ihm blindlings und ohne daß mir eine andere Möglichkeit blieb.
    Brant schob mich auf einen bemoosten Baumstamm. Er blieb über mir stehen und drehte mein Gesicht nach hinten ins Mondlicht, um sicherzugehen, daß ich ihm zuhörte. Sein eigenes Gesicht war ernst und angespannt, und ich dachte mit jener merkwürdigen Unbeteiligtheit, die stets auftritt, um unseren größten Kummer als Nichtigkeit zu verspotten: Ich wußte nicht, daß Grausamkeit einen Menschen so sehr verändern kann.
    »Was weißt du von der alten Religion in Veliano?«
    »Ich weiß gar nichts«, antwortete ich benommen.
    »Das nehme ich dir nicht ab, aber wir wollen nicht weiter darauf eingehen. Du hast die gehäuteten Leichen hinter dem Palast gesehen?«
    Zuerst faßte ich die Frage als Drohung auf, eine Erinnerung daran, wozu Brant imstande war, doch dann begann mein Denken wieder zu arbeiten, und ich begriff, daß es keine Drohung darstellte, sondern eine Einleitung. Wenn ich nicht vor Angst gelähmt bin, habe ich ein gutes Ohr. Unglaublicherweise begann Brant, eine Geschichte zu erzählen.
    »In Veliano rühren sich Kräfte«, erklärte er. »Kräfte, die über zwei Jahrhunderte lang geruht haben.«
    Eine Geschichte… Er wollte mir eine Geschichte erzählen, während just in diesem Augenblick Jorry über den Sattel eines bewaffneten Untergebenen gezerrt wurde. Hatte man ihm die Hände gebunden? Weinte er?
    »Kräfte?« erkundigte ich mich bissig und sprang auf die Füße. »Meinst du Kräfte des körperlosen Bösen, das aus Flußbetten und tiefen Seen aufsteigt? Das Stück habe ich vor über einem Monat am Südtor von Frost gesehen. Ein Schauspieler sprach so dummes Zeug, und das Publikum entleerte einen Nachttopf über ihn!«
    »Die Kräfte sind körperhaft genug – im Denken der Menschen. Das hat dem Bösen immer ausgereicht. Sei nicht kindisch, Fia. Als Kind wirst du mir nicht von Nutzen sein.
    Noch als wir bei Mutter Arcoa waren, gingen unter den Schülern Gerüchte um, daß an manchen Orten – sie wurden nie benannt und lagen immer weit entfernt! – mehr der alten Künste zu finden war. Man hatte Pflanzen für stärkere Bewußtseinsdrogen wiederentdeckt und destillierte sie. Geistige Disziplinen, die man über Generationen geheimgehalten und weitergegeben hatte, wurden von jemandem beobachtet, der einen kannte, der ein Kind gesehen hatte, das Geschichten aus den Köpfen der anderen hervorbrachte. Aber keiner dieser Reisenden vermochte Mutter Arcoa zu sagen, wie man diese Drogen herstellte oder wo man das Kind fand. Auch andere Geschichten kamen einem zu Ohren, Geschichten von verlorenen religiösen Heiligtümern, die in der Lage sein sollten, die geistige Trance unausweichlich zu erzwingen. Du mußt doch auch von solchen Geschichten gehört haben. Oder nicht?«
    »Doch!«
    »Aber du hast ihnen keine Beachtung geschenkt. Bist du seither eine Gläubige der Vier Schutzgötter geworden?«
    »Nein!«
    »Eine Ungläubige?«
    »Nein.« Ich antwortete wahrheitsgemäß. »Es scheint bedeutungslos.«
    »Und der Skepitizismus der Silberstädte ist soviel einfacher als der Glaube. Religion – jede Religion – ist zu verpflichtend, nicht wahr, Fia? Da ist es leichter, sich allem zu entziehen.«
    Er nahm seine Hand von meinem Hals. Er tat immer noch weh.
    »Nach deiner Flucht von Mutter Arcoa«, fuhr er fort, »habe ich diese Geschichten intensiver verfolgt. Ich suchte etwas zu meiner Ablenkung. Im Laufe der Jahre erfuhr ich viel über die Bewußtseinskünste, und das führte mich nach Veliano. Hier hörte ich von den Weißen Schalmeien durch ein Mädchen, das inzwischen durch die Priester der Vier Schutzgötter bei lebendigem Leibe gehäutet wurde.«
    Ich mußte daran denken, was Ludie mir erzählt hatte… ›und ein anderes Mädchen vor der Zofe der zweiten

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