Schalmeienklänge
bereits zu spät käme und die Wachablösung schon erfolgt war. Aber Rog und sein Kamerad standen immer noch an der Wand; die Wachablösung stand noch bevor. Ich kam nicht zu spät. Zwischen den Schatten hindurch konnte ich von Rogs Gesicht ablesen, daß er es aufgegeben hatte, auf mich zu warten, daß er geschmollt hatte, aber durchaus wieder umzustimmen war.
»Ich bin aufgehalten worden durch den König«, erklärte ich, mehr brauchte es auch gar nicht. Er warf seinem Kameraden einen schalkhaften Blick zu – siehst du, sie kommt zu mir direkt vom König! – und küßte mich ausgiebiger als notwendig. Er war ja noch so jung.
Wieder foppte ich ihn, wieder sagte ich, ich müßte meine Geschichte spielen, wieder schmeichelte ich ihm und seinem Waffenbruder, und die ganze Zeit über nagte die Ungeduld an mir (schnell, schnell, sonst kommt noch jemand!), und die wilde Musik dröhnte über die Ränder meines Bewußtseins. Ich konnte sie fühlen und spürte auch, wie ich ihr gerade noch Widerstand leisten konnte.
»Und Lady Kaleena?«
»Ist fort zu ihrem Liebsten«, erklärte Rog und drückte mich noch einmal.
»Lady Triwen?«
»Noch beim Essen. Und die oberste Kinderfrau ebenfalls, stimmt’s, Amian?« Amian nickte und beobachtete mich, die ich in Rogs Armbeuge hing, erwartungsvoll.
»Cul, dann erzähle schon deine Geschichte«, meinte Rog nachsichtig. »Amian und ich schauen zu.«
»Lessy auch«, sagte ich, riß die Tür zum Kinderzimmer auf und stand drinnen, bevor er mich aufhalten konnte.
»He, du!« protestierte Amian.
»Schläft der Prinz?« rief ich laut. Ich wagte es nicht, mich der Wiege zu nähern; sie hätten es nicht gestattet.
»Pst!« mahnte Lessy, und die andere Kinderfrau schob sich zögernd zwischen mich und die Wiege. Doch ich hatte das leise Glucksen gehört, das auf meinen Ruf hin erfolgte; Rofwold lag wach.
»Du gehst besser wieder auf den Gang«, meinte Amian, und nun stand keine schäkernde Erwartung in seinem Blick. Er wirkte plötzlich älter und grober und drängte sich ebenfalls zwischen mich und die Wiege. Ich lächelte ihm zu.
»Nur eine Geschichte«, sagte ich und ließ mich unvermittelt auf den Boden sinken. Die vier schauten einander immer noch zögernd an. Aber eine kleine angetrunkene Frau, zusammengesunken am Boden zu Füßen eines bewaffneten Soldaten, wirkt nicht bedrohlich. Sie hielten mich lediglich für betrunkener, als sie geglaubt hatten; sie konnten nicht wissen, daß die Musik, die am Rande meines Bewußtseins anschwoll, mir alle Kraft nahm, mich auch nur aufrecht zu halten.
Lessy meinte zögernd: »Mylady Kaleena sagte ja, daß sie gerne eine Geschichte hätte, sobald sie zurückkommt…«
»Lady Triwen bleibt fort bis Sonnenuntergang«, meinte Rog beflissen.
»Bis Sonnenuntergang«, kam das Echo von der anderen Kinderschwester.
Amian schwieg. Aber er befahl mir auch nicht, den Raum zu verlassen.
Ich breitete die Hände aus.
Sogleich erklang die Musik. Es war, als ertönten hinter einer geschlossenen Tür alle Noten der Welt, und wenn ich die Tür öffnete, würde ich überwältigt und betäubt. Schweiß rann mir die Wangen und zwischen den Brüsten herab, während meine Lungen heftig arbeiteten. Es kostete so viel Willenskraft, die Tür geschlossen zu halten, daß ich für einen panikerfüllten Augenblick befürchtete, es bliebe mir nicht mehr genug, nach dem Bewußtsein des kindlichen Prinzen zu greifen, der verborgen unter dem Baldachin seiner Wiege lag.
Wiedergeboren. Die Wiedergeburt der legendären T’Nig. Die Wiedergeburt in die Obhut der Vier Schutzgötter. War Wiedergeburt nichts anderes als eine im Denken der Menschen geschaffene Sage, oder besaß sie – wie die Geschichte von den Weißen Schalmeien – einen wahren Kern, der durch den Dschungel phantastischen Blattwerks, der ihn im Laufe der Jahrhunderte umrankt hatte, nicht mehr zu erkennen war? Und wenn Wiedergeburt eine verborgene Wahrheit war, welche Erinnerungen daran lagen dann unverhüllt im Denken von Leonores Sohn? Er war erst acht Tage alt. Welche Erinnerungen hatte er von früheren Geburten und an das, was frühere seiner Inkarnationen von den Bewußtseinskünsten wußten?
Ich würde versuchen, zu Rofwolds Erinnerungen an sein Vor-Leben durchzustoßen, falls es solche gab, falls sie nicht in den acht Tagen verblaßt waren und falls sie sich durch all die Bewußtseinsdrogen, die Leonore während ihrer Schwangerschaft eingenommen hatte, noch zu Bildern gestalten ließen. Ich würde
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