Schalmeienklänge
unter mir und etwas Glitschiges in meinem Gesicht.
»Lebst du noch?«
»Ja, ich lebe.«
»Brauchst du irgend etwas?«
»Nein. Nein. Nur Ruhe.«
»Ich muß zurück. Auf meinen Posten!«
»Dann geh nur«, sagte ich und versuchte, ihm zuzulächeln. Er lächelte nicht zurück. Auf seinem ehrlichen Gesicht sah ich Besorgnis, Unbehagen… und Ekel. Mein speichelschaumiges Gesicht und mein Schweißgeruch hatten seine jugendliche Leidenschaft zunichte gemacht, und er konnte mich nicht schnell genug allein lassen.
»Geh mit dem Schutz der Vier Götter«, flüsterte ich ihm hinterdrein, doch er konnte mich schon nicht mehr hören. Ich glaubte nicht an meinen eigenen Segenswunsch, aber ich meinte ihn ehrlich. Alle Verhaltensweisen, die Rog mir gegenüber an den Tag gelegt hatte, waren jugendlichem Ungestüm oder Freundlichkeit entsprungen, einschließlich der Abgeschiedenheit des Lagerraumes, wo ich nun lag, und der Tatsache, daß er bei mir geblieben war. Solche Freundlichkeit im jugendlichen Alter ist selten. Rog hatte mir mehr Freundlichkeit erwiesen als Brant und ich einander vor zehn Jahren, obgleich wir uns Liebe gelobt hatten.
Behutsam setzte ich mich auf. Mein Kopf war klar, mein Denken intakt, die Musik verstummt. Intakt war auch das Bild, das sie mir übermittelt hatte, die Geschichte von Brants Lüge gegenüber Leonore.
Eine Lüge, jawohl. Aber die Lügen eines Menschen sagen manchmal vielleicht mehr aus als seine Wahrheiten, mehr sogar, als er selbst weiß. Lügen sind eher eigene Schöpfungen aus den lebhaften Bewußtseinsschichten, die selbst jenen Künsten unzugänglich sind, die Brant so hochschätzt. Wahrheit erkennt man. Lügen werden geschaffen.
Vielleicht war es die tödliche Musik, vielleicht der kräftige Gestank der Droge mit ihren Auswirkungen auf meine ungeübte Psyche, vielleicht auch nur die Tatsache, daß ich alles, was Brant getan hatte, im unterschiedlichsten Licht gesehen hatte. Drehte man es so, erschien es auf diese Weise, drehte man es anders, wirkte es auch wieder ganz unterschiedlich. Was auch immer der Grund war: als ich mich an die Holzpfeiler im Lagerraum klammerte und mich hochzog, klammerte sich mein Denken nicht weniger eng an die abstoßende Geschichte, die zwischen meinen Händen entstanden war, drehte sie in diese, dann in jene Richtung und sah sie im unterschiedlichsten Licht. Sie würde mich retten.
Denn ich wußte jetzt, wo die Weißen Schalmeien zu finden waren.
10
Von dem Flügel des neuen Schlosses, in dem sich Brants und Cyndas Gemächer befanden, hatte man keinen Blick auf den Geweihten Garten. Seine Fenster lagen zum Innenhof und gaben den Blick auf den breiten Steinklotz des Priesterheims frei. Wenn Cynda, die sich seit Brants Festnahme in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, verzweifelt am offenen Fenster säße, so bliebe es ihr wenigstens erspart, die Ausgelassenheit von Rofwolds Schutzerbittungstag aus dem Geweihten Garten mit anzuhören. Kein Lachen und kein Festlärm würden zu ihr dringen. Doch sie sähe sich dem Anblick der schartigen Steinmauern des altes Schlosses gegenüber, unter dem ihr Ehemann vielleicht in Ketten lag. Ich fragte mich, ob sie mit glasigem Blick hinüberstarrte oder ob die Vorhänge so dicht vorgezogen waren wie an jenem Tag, da ich die Drogen aus dem geschnitzten Altar gestohlen hatte.
Im Gegensatz zu jenem Tag brauchte ich heute keine List, um das Zimmer einer Adligen zu betreten. Cynda war eine in Ungnade gefallene Geliebte und das törichte Eheweib eines eingekerkerten Ketzers. Niemand kümmerte sich darum, wer bei ihr aus- und einging, solange sie nicht selbst herauskam, um das Fest aller anderen zu stören. Die Wachen winkten mich durch und schienen nur wenig überrascht, daß Mylady an diesem Festabend eine Besucherin haben sollte. Nur wenige andere waren überhaupt an diesem Abend zu ihr gekommen.
Ich hatte befürchtet, Cynda schliefe vielleicht unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln, aber das war nicht der Fall. Sie saß zusammengekauert auf einem niedrigen Schemel in einer dunklen Ecke. Ich roch sie, noch ehe ich sie sah. Ihr prachtvolles Haar hing in fettigen Strähnen um ihr Gesicht, und sie trug nur ein an einer Schulter zerrissenes Unterhemd. Dunkle Schatten breiteten sich unter ihren blauen Augen aus, als hätte sie nicht geschlafen. Aber sie hatte nicht den Verstand verloren. Wenn diese Augen auch stumpf und verzweifelt wirkten, so waren sie doch klar und normal. Ihre apathische Nachlässigkeit entsprang
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