Schalmeienklänge
Band unter meiner Berührung verfiel und die beiden Locken in einer Kaskade in meinem Schoß vermischte. Ich führte die Fackel näher heran und beugte mich weit darüber. Alles Haar war blond, doch in zwei verschiedenen Schattierungen: ein strahlendes Gold und ein fahleres Blond von der Farbe reifen Weizens. Das strahlendere erkannte ich als Cyndas Haar. Eine lange Weile starrte ich die vermischten Locken an und fand keine Geschichte, für die es einen Sinn ergeben hätte, der dem Untergang geweihten Ard Haare abzuschneiden und zusammen mit ihren eigenen aufzubewahren. Und doch hatte Cynda das getan. Sie hatte die gestohlenen Besitztümer von Männern, die sie geliebt hatten, hierher gebracht und suchte sie immer wieder an einer Stelle auf, von der weder Brant noch ein anderer ihrer Liebhaber jemals erfahren würde, und zusammen mit diesen Dingen bewahrte sie verbissen die Habe ihrer Rivalin auf, deren Tod sie herbeigeführt hatte.
Auf eine plötzliche Eingebung hin hielt ich meine Fackel höher und führte sie über weitere Gegenstände in dem Raum. Und unter einem weiteren Tisch befanden sie sich tatsächlich: Leonores Taschentuch, bestickt mit dem Emblem der Königin, dem grauen Falken und den verschlungenen Buchstaben R und L. Ein Tuch aus der von ihr bevorzugten dunklen Seide. Ein Weinbecher. Er war zerschmettert.
Aber eine Königin selbst ist unantastbar. Ein verrücktes Bauernmädchen nicht.
Verbittert ließ ich die Fackel sinken. Es blieb der zweite Kasten von Ards armseliger Habe. Das Schloß war durch den Rost schon längst kaputt, aber das Holz des Kastens war von Feuchtigkeit aufgequollen und wollte sich nicht öffnen lassen. Ich zerrte mit aller Kraft, und schließlich lösten sich Kasten und Deckel und zerbrachen in Holzsplitter, daß mir die Finger bluteten. Über die toten Locken in meinem Schoß ergoß sich ein reiner Glanz.
Die Weißen Schalmeien.
Sie sahen aus, als ob sie lebten. Lebten, als wären sie aus einem so vibrierenden Material geschaffen, das von eigenem Leben erglühte: in Form gegossenes Sternenlicht. Doch als ich die Schalmeien anhob, fühlten sie sich kalt an und erwiesen sich als weit schwerer, als sie ausgesehen hatten. Ihr Weiß war das von freigelegten Gebeinen.
Sieben Pfeifen, die mit zwei Bändern zu einem Rohrblattinstrument zusammengebunden waren, wobei das Blatt aus dem gleichen kalten, weißen Material gefertigt war wie der Rest. Jedes Band war mit Blättern, Blumen und Wurzeln so präzise geschnitzt, daß dieses Blattwerk nicht weniger lebendig und ebenso kalt und weiß wirkte wie die Schalmeien selbst. Zwei Wurzeln, ebenso gefertigte Blätter, Halme und Blumen. Diese Schnitzereien, die nach Brants Angaben die einzelnen Vorgänge zum Brauen der Droge aufzeigten, vermochten zusammen mit dem Klang der Schalmeien das Denken von Menschen ohne jede Abwehrmöglichkeit durch sie zu beherrschen. Ich starrte die Schnitzereien an und zeichnete sie verwundert mit den Fingern nach.
Es waren Levkojen.
*
Es kostete mich die ganze Nacht, die Levkojenblüten zu sammeln, die Droge herzustellen und in die Flakons in den Geheimtaschen meiner Bluse abzufüllen. Ich arbeitete am Rande der Senke im Schein von Fackel- und Mondlicht, denn ich konnte den Schutz von Ards Häuschen nicht ertragen: tote Besitztümer in tödlicher Stille.
Einmal führte ich die Weißen Schalmeien an meine Lippen und blies. Es ertönte nicht ein Ton, sondern eine ganze Notensequenz, eine hohe und klagende Melodie. Sie erinnerte mich an das ergreifende Lied des Flötenjungen im Stallhof des Schlosses, aber das war auch alles. Ohne das Zusammenwirken von Musik und Droge wurde die Psyche gereizt, aber nicht offengelegt, und ich fragte mich, ob das an die unerfüllte Sehnsucht heranreichte, die selbst die süßesten Lieder und die begabtesten Musiker zu erzeugen vermochten.
Die Weißen Schalmeien fühlten sich kalt an meinen Lippen an. Dafür also, für diese wärmeraubende, gewöhnliche Musik, dafür war Ard gefoltert, Brant eingekerkert und Jorry entführt worden. Dafür.
Der Abscheu allein hätte mir die Kraft verleihen können, die Weißen Schalmeien auf der Stelle zu zerschmettern. Statt dessen schob ich sie in meine Schärpe und brach beim ersten Tageslicht zum Palast auf.
Es war zwei Nächte her, daß man Brant im Priesterheim gefangengesetzt hatte. War er noch am Leben? Furcht, die mich seit der Ankunft der Karawane vor dem Großen Saal niemals verlassen hatte, schwoll an, während ich ritt,
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