Schalom
stehen, bis das Auto um die Straßenecke verschwunden war.
Noch lange starrte er die Sonnenstrahlen an, die durch das Blätterdach der Kastanie schienen, dann drehte er sich entschlossen um, ging hinein, nahm das Telefon und ging zum Balkon zurück.
Wie gewohnt setzte er sich auf den Korbstuhl und legte seine Beine auf Annas Stuhl. Das Telefon legte er nicht weg, benutzte es aber vorläufig noch nicht. Seine Augen wanderten über die Zweige der Kastanie. Er wusste schon, dass die grünen Blätter nur eine scheinbare Ruhe spendeten, nur ein Unwissender konnte daran glauben. Trotzdem liebte er diese Stunden, die er allein auf dem Balkon verbrachte, Stunden, in denen er den Garten der Schuhmachers betrachtete. Aus dem, was für andere wie fröhliches Vogelgezwitscher klang, hörte er den Ruf der Elster, der vor einer Katze oder einer anderen Gefahr warnte, heraus. Als er hierhergekommen war, hatte er kaum einen Vogel benennen können, auch nicht diesen seltsamen Vogel, der über den Garten strich und auf der Tanne am anderen Ende des Gartens landete. Er sah ganz anders aus als die Vögel, die er von Israel kannte. Anna hatte für ihn mithilfe eines alten Bestimmungsbuchs den Namen auf Hebräisch herausgefunden.
Er schaute über den Garten und wusste, dass er sich eindeutige Gewissheit verschaffen musste, ob Gil etwas zugestoßen war. Er konnte sich aber nicht entscheiden, wen er anrufen sollte. Avri oder Vicky waren die sicherste Informationsquelle, aber er schreckte davor zurück, weil er sie nach Terroraktionen nie angerufen und sich erkundigt hatte, wie es ihnen ging. Er konnte es Avri auch nicht übel nehmen, dass er nicht anrief.
Sein Blick landete auf Spinnweben, die winzige Taudiamanten in leuchtende Ketten verwandelten, deren symmetrische Genauigkeit er bewunderte. Die Spinne konnte er nirgends entdecken, aber er war sicher, dass sie irgendwo lauerte. Plötzlich lief ein Zittern durch das Netz, er sah noch genauer hin und sah die winzigen Beinchen, die etwas Schwarzes umkrallten, letzte Zuckungen deuteten auf das Leben hin, das zwischen den Spinnenbeinen verlöschte.
Vielleicht sollte er seine Mutter anrufen? Er wusste nicht, ob die Blockade in ihrer Kommunikation überwunden war, aber er hatte sie mit seinem ersten Anruf unterbrochen, als er sie von Gils geplanter Israelreise unterrichtet hatte, und seither hatte er öfter mit ihr telefoniert. Es gab also keinen Grund, sie nicht auch jetzt anzurufen. Aber vielleicht wusste sie gar nichts von dieser schrecklichen Möglichkeit, dass Gil etwas passiert sein konnte, und er würde sie in Panik versetzen. Seltsam. Vor gar nicht langer Zeit hatte sie Gil nicht sehen wollen, und jetzt fürchtete er, sie damit zu ängstigen, dass Gil, Gott behüte, etwas zugestoßen sein könnte. Trotzdem war es bestimmt gut, mit ihr über Gil zu sprechen. Schließlich war sie die Einzige, die Gil in Israel besucht hatte. Vielleicht wusste sie etwas von seinen Plänen, etwas, was andere nicht wussten.
»Ich glaube, dass ich ihn sogar liebe.« Diese Worte seiner Mutter hallten in seinen Ohren nach und ließen die letzte Schranke fallen.
Auf der anderen Seite der Leitung läutete es immer wieder, aber niemand nahm ab. Wie lange brauchte sie? Vielleicht war sie nicht zu Hause. Natürlich saß sie nicht nur da und wartete darauf, dass er anrief.
Er stellte sich vor, wie sie in Pantoffeln langsam vom Wohnzimmer zum Telefon schlurfte, denn sie hatte immer darauf bestanden, dass das Telefon in der Nähe der Essecke stand. Er war seit der Trauerwoche für seinen Vater zwar nicht mehr in der Wohnung gewesen, ging aber davon aus, dass sich dort nichts geändert hatte. Bis auf die Farbe der Wände. Avri hatte ihm erzählt, dass sie vor zwei Jahren beschlossen hatte, alles frisch zu streichen. Außerdem hatte Avri ihr eine Klimaanlage im Wohnzimmer installiert.
Es klingelte immer noch, aber er gab nicht auf. Bei alten Menschen musste man geduldig sein, und seine Mutter war alt. Was alten Menschen schwerfiel, musste auch ihr schwerfallen. Er hatte sie zwar schon lange nicht gesehen und auf Fotos erkannte man nur die Veränderungen im Gesicht, doch er konnte sich das langsame und schwere Schlurfen vom Wohnzimmer zum Telefon vorstellen.
Plötzlich tauchte das grauschwänzige Eichhörnchen in der Tanne auf und landete auf einem Zweig. Jaki erstarrte und verfolgte konzentriert die Bewegungen des Tieres, bis die Stimme seiner Mutter ihn erschrocken zusammenfahren ließ.
»Avri?«, sagte sie
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