Schalom
war schon auf dem Heimweg vom Supermarkt, als er sich an die seltsame Reaktion von Frau Silber heute Morgen im Treppenhaus erinnerte.
Im Supermarkt hatte er es nicht lassen können und vier Flaschen Cabernet Sauvignon für hundert Schekel gekauft, ein Sonderangebot seines Lieblingswinzers. Er hätte auch acht Flaschen gekauft, wenn er sie hätte tragen können, deshalb hatte er nur vier genommen. Jetzt schnitten die Tragegriffe der Plastiktüten in seine Hände, und er war gezwungen, stehen zu bleiben, die Tüten auf den Boden zu stellen und zu warten, bis das Blut wieder durch seine schmerzenden Finger floss. Wie schön wäre es jetzt, wenn Frau Silbers neuer Enkel käme. Hatte er etwa Sehnsucht nach ihm? Ein Bote vom Supermarkt hätte diese Rolle ebenfalls übernehmen können, aber er heuerte nie einen Boten an. Wie dem auch sei, Frau Silbers junger Mann erschien nicht, deshalb musste er die Tüten abstellen. Kaum dass er sich an den neuen Enkel erinnerte, tauchte auch wieder das Bild von Frau Silber vor ihm auf.
Was hatte sie so erschreckt, als er ihr im Treppenhaus von dem Busunfall erzählte? Er hatte ja nichts erfunden. Die Medien berichteten schon seit drei Tagen ununterbrochen darüber. Vielleicht hatte auch sie bei dem nicht identifizierten Toten an sich selbst denken müssen? Was, zum Teufel, hatte ihn bewogen, ihr von seinen Gedanken zu erzählen? Dass es niemandem aufgefallen wäre, wenn er im Bus gewesen und getötet worden wäre?
Wäre sie nicht plötzlich und ohne Vorwarnung in ihre Wohnung zurückgerannt, hätte er noch lange über den überflüssigen Menschen in der russischen Literatur des 19 . Jahrhunderts doziert, obwohl er nicht sicher war, ob sie überhaupt Bücher las. Er sah auch nie eine Zeitung in ihrem Briefkasten, außer den Bulletins der Vereinigung der überlebenden Invaliden . Er wusste nicht, ob ihr seliger Mann Invalide gewesen war, aber das war die einzige Zeitung, die sie bekamen. Turgenjew, Lermontov und Gogol und natürlich Puschkin oder Dostojewski konnte man natürlich auch auf Hebräisch lesen, die Sprache musste also kein Hindernis sein. Um die Wahrheit zu sagen, er selbst war kein großer Kenner der russischen Literatur des 19 . Jahrhunderts, aber er war gezwungen gewesen, das Motiv des überflüssigen Menschen gründlich zu studieren.
Er hatte einen Kurs zu diesem Thema vorbereiten müssen, der im Veranstaltungsplan angekündigt worden war und den eigentlich eine junge Dozentin halten wollte, der aber kurzfristig gekündigt worden war, weil sie in den letzten Jahren keine nennenswerte Veröffentlichung zustande gebracht und alle Abmahnungen ignoriert hatte. Sie hatte sich auf den großen Ansturm der Studenten für ihre Kurse verlassen und hielt sich für gefeit gegen die strengen Regeln des akademischen Betriebs. Sie war so selbstsicher gewesen, dass sie sich öffentlich über den Inhaber des Lehrstuhls lustig machte, der von ihr verlangt hatte, »sie möge weniger in das investieren, was ihre Unterrichtstunden so attraktiv machte, und ihre Kraft stattdessen in Veröffentlichungen stecken«.
Obwohl sie eine hervorragende Dozentin war, sehr belesen auf ihrem Gebiet und eine der wenigen, die jene russischen Romane im Original lesen konnten, wollte er dem gekränkten Professor seine Unterstützung nicht verweigern. Es war klar, dass ihre mangelnden Veröffentlichungen nur ein Vorwand waren, der Lehrstuhlinhaber wollte sie loswerden, weil sie ihn und seine Forderungen öffentlich verspottet hatte.
Der Professor war sie zwar dann losgeworden, aber ihr Spott hallte weiterhin durch die Korridore der akademischen Welt, auch als sie nach ein paar Jahren als Lehrerin eines Gymnasiums einen eigenen Lehrstuhl in Jerusalem bekam und dort sehr erfolgreich war, auch ohne zu veröffentlichen.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er auf dem Bürgersteig stand, auf dem Weg nach Hause, zwei Weinflaschen rechts und zwei links in Plastiktüten, gequält vom schlechten Gewissen, weil er zwanzig Jahre zuvor den Rausschmiss jener jungen Dozentin unterstützt hatte. Er schüttelte sich, versuchte, sich von den bedrückenden Gedanken zu befreien, hob die Tüten hoch, ignorierte den Schmerz in seinen Händen und ging mit großen Schritten weiter.
Er wusste nicht mehr, wie er von der Erinnerung an Frau Silbers plötzliches Erschrecken auf den Gedanken an jene Dozentin gekommen war, aber plötzlich überkam ihn wieder das schreckliche Gefühl, dass niemand ihn vermissen würde, wenn er einfach
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