Schalom
dass er es ihm schon gesagt hatte, deshalb hatte sie es nicht eilig, und außerdem war er in die Suche nach Gil vertieft, also hatte sie es völlig vergessen. Bei Gil gehe es schließlich um Leben und Tod, sagte sie. Er habe ja selbst nicht mehr an die Geschichte mit Guy gedacht.
Ihr Junge musste diese Sache allein durchstehen, dachte Avri, sie mussten ihre Aufmerksamkeit jetzt Jakis Sohn widmen. Und auch ohne die Sorge um Gil wären sie für Guy keine große Hilfe gewesen. Trotzdem hatte Avri das Gefühl, dass sie ihm ihre Aufmerksamkeit entzogen. Wer sagte denn, dass es bei Guy nicht auch um Leben und Tod ging? Er war nicht mit irgendeinem deutschen Freund auf einem Ausflug im Heiligen Land. Bei seinen Ausflügen ging es jeden Tag um Leben und Tod. Persönliche Probleme, die ihn ablenkten, konnten ihn und vielleicht auch seine Freunde das Leben kosten.
Vicky sagte, er solle sich nicht so viele Sorgen machen. Es tue ihr zwar leid wegen der Beziehung mit Noemi, sie habe das Mädchen lieb gewonnen, aber Guy sei stark genug, diese Krise zu überstehen, es hatte wohl so passieren müssen, und diese Erfahrung würde ihm letztlich nicht schaden.
Avri wusste, dass nichts auf der Welt ihn besser beruhigen konnte als ein Gespräch mit Vicky. Wenn sie jetzt bei ihm wäre, hätte er sie fest umarmt. Doch er konnte hören, wie die Telefone in ihrem Büro klingelten und um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten, sie musste auflegen und zu ihrer Arbeit zurückkehren. Er wollte sich ebenfalls seiner Arbeit zuwenden, da hörte er die Stimme seiner Sekretärin durch die Sprechanlage:
»Avri, deine Mutter bittet um einen Rückruf.«
Irgendein Idiot musste es ihr erzählt haben! Er hätte wissen müssen, dass es passieren würde. Warum hatte er sie nicht darauf vorbereitet? Wer weiß, wie sie es erfahren hatte. Es fehlte nicht an guten Seelen, die sie mit Vergnügen darauf hinweisen würden. An erster Stelle stand da Tante Zila. Wie hatte sie eigentlich auf Gils Ankunft reagiert? War es möglich, dass seine Mutter es ihr nicht erzählt hatte? Nein, bestimmt war sie die Erste, die es erfahren hatte. Nun, und wenn es nicht Tante Zila war, dann der Nachbar von oben. Der mürrische Professor würde keinen Grund auslassen, um mit Mutter ein Wort zu wechseln. Und Jaki? Er saß dort in München auf seinem Balkon und schaute hinüber zum Englischen Garten und wusste nicht einmal, dass das ungewisse Schicksal seines Sohns ihre Mutter zum Wahnsinn treiben würde und er, Avri, alles allein ausbaden musste.
Natürlich musste man beten, dass Gil nicht der unbekannte Tote war, aber wenn sich herausstellte, dass es stimmte, wäre das für Jaki und Anna ein entsetzliches Unglück. Dann würde er ihre Mutter allein stützen müssen.
Avri fing sich und streckte die Hand zum Telefon aus. Er wusste ja gar nicht, warum er sie zurückrufen sollte. Vielleicht war ja ihr Fernsehgerät wieder defekt oder der Ausguss verstopft oder es gab sonst ein Malheur im Haushalt. Lange hielt er den Finger auf die Taste und starrte das Telefon an, bevor er die Kurzwahltaste drückte. Dann hörte er den Rufton.
Er hatte keine Wahl, er musste mit ihr sprechen. Er wusste, dass er ihr Zeit geben musste, bis sie ans Telefon ging, sie war keine junge Frau mehr. Doch dann antwortete sie viel schneller, als er gedacht hatte.
»Avri, bist du das?«, sagte sie.
Er versuchte, seine Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen. »Ja, Mutter, ich bin’s. Du hast um einen Rückruf gebeten, oder?«
»Avri, ich möchte, dass du mir genau sagst, was dort passiert ist! Hörst du? Was ist mit Gil passiert?«
Sofort bemerkte er die grelle Panik in ihrer Stimme. Es waren schon Jahre vergangen, seit er diesen Ton zuletzt bei ihr gehört hatte, aber jetzt war alles sofort wieder da. Wenn Vater bei ihr wäre, hätte er sie an beiden Schultern gehalten und ihr wortlos in die Augen geschaut, so lange, bis sie Mut gefasst hätte. Wie von Zauberhand weggewischt, so wäre dann die Panik aus ihrem Gesicht verschwunden und sie hätte den Kopf an seine Schulter gelegt. Dann hätte der Vater ihre Schultern losgelassen, sie umarmt und gesagt: »Es reicht, Nechamkale, genug! Ich bin bei dir, genug!«
Doch nun war sie allein mit ihrer Angst. Auch wenn Avri es gewagt hätte, seinen Vater zu imitieren, er hätte es nicht gekonnt. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihr seine eigene Angst um Gil zu verheimlichen, wusste aber nicht, was er sagen sollte.
Sie schrie wieder: »Avri?«
»Ja, Mutter, ich
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