Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schalom

Titel: Schalom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
Weile neben Gil herging, spürte sie ihre Beine nicht. Sie stützte sich zwar auf ihn, aber nicht, weil sie Hilfe brauchte, sondern um sich zu vergewissern, dass sie mit seiner Unterstützung rechnen konnte.
    Sie schwieg, als sie auf der anderen Seite die Brücke verließen.
    »Wir sind hier allein, nicht wahr, es gibt keinen Grund, dass ich dich weiterhin Gil nenne«, wagte sie zu sagen.
    »Aber hier sind viele Leute, Großmutter«, sagte er. »Und wie möchtest du mich nennen, wenn nicht Gil?«
    Sie schaute ihn zärtlich an und antwortete nicht. Bestand er darauf, den Enkel zu spielen? Oder war er wirklich der Enkel und wusste nicht, dass sich in ihm Menachem versteckt hielt?
    Das Ende der beleuchteten Promenade war nicht mehr sehr weit entfernt, und sie wusste nicht, ob sie bis zum Stacheldraht am Grenzstützpunkt kommen würden.
    Er versuchte, das Schweigen, das ihr so angenehm war, zu unterbrechen: »Weißt du noch, worüber ihr gesprochen habt, als ihr hier spazieren gegangen seid?«, fragte er.
    »Worüber wir gesprochen haben?«, überlegte sie laut. »Er hat gesagt, eine wichtige Voraussetzung, um zusammenzuleben, sei die Bereitschaft zur Kooperation. Ja, das hat er gesagt.«
    Sie wusste, dass sie auch jetzt mit ihm kooperieren musste, wenn er die Rolle des Enkels übernommen hatte.
    Sie war sich ganz sicher, dass Menachem bei ihr war, aber sie wusste nicht, was ihm erlaubt und was verboten war. Und wenn er darauf bestand, der Enkel zu sein, gab es wohl keine andere Möglichkeit. Menachem wusste bestimmt, dass er ihr in der Gestalt eines Enkels erschien, aber es war durchaus möglich, dass der Enkel es nicht wusste.
    »Ich glaube, hier ist die Promenade zu Ende«, sagte er und wollte schon zurückgehen.
    Sie ließ es nicht zu, dass er stehen blieb, sie zog ihn weiter auf den Sand.
    So nahe am Wasser war das Laufen leichter. Nun waren sie fast allein. Da und dort stand ein Zelt am Strand, aber es waren nicht mehr viele Menschen, die ihnen entgegenkamen.
    »Hier war es«, sagte sie, »hier haben wir gesessen und die ganze Nacht geredet.« Sie ließ sich auf den Sand sinken und legte die Arme um die Knie, genau wie damals. Er blieb stehen.
    »Lass uns ein bisschen hier sitzen«, sagte sie, »dann gehen wir wieder.«
    Es war unmöglich, dass er sich nicht an diesen Ort erinnerte. Damals hatte er gesagt: hier zwischen Berg und Meer und Himmel, an diesem Meeresarm, der bis nach Afrika reicht.
    Sie wollte, dass er sich neben sie setzte, aber er bückte sich und nahm einen kleinen Stein, und sie erinnerte sich, wie gern Menachem Steine über das Wasser hüpfen ließ. Er warf mit einer schnellen Bewegung den Stein tief und flach über die glatte Wasseroberfläche, und der Stein flog schnell, berührte das glänzende Wasser leicht und hüpfte immer weiter.
    Während ihre Augen dem Stein folgten und er sich bückte, um einen neuen Stein zu nehmen, verschwamm das Bild vor ihren Augen, die Bucht begann sich zu drehen. Sie schob eine Hand nach hinten und ließ sich in den Sand sinken.
    Erst schien der Himmel sich herabzusenken, doch dann sah sie das überraschte Gesicht Menachems. Warum war er so überrascht? Seine Lippen bewegten sich, aber sie hörte nichts. Eine große und unbegreifliche Ruhe senkte sich auf sie. Sie schaute ihn schweigend an und begriff nicht, warum sein Gesichtsausdruck so eindringlich wurde. Gil begann, um sie herumzulaufen, oder war es Menachem? Sie begriff nicht, was er tat. Für einen Moment schien es, als würde er wegrennen, aber dann kam er zurück, legte die Hände auf ihre Brust und fing an, sie rhythmisch zu drücken.
    Nun war ihr klar, dass es Menachem war, Gil hätte es nicht gewagt, sie so anzufassen, und ganz bestimmt nicht, sie so durchzukneten, wie Menachem es jetzt tat. Sie wollte ihn fragen, warum er das machte, aber ihre Zunge gehorchte ihr nicht, und bevor sie etwas sagen konnte, beugte er sich ganz weit über sie und küsste sie so lange, dass sie an einem anderen Tag den Atem verloren hätte, aber erstaunlicherweise erstickte sie nicht. Seine Luft füllte ihre Lungen, als wäre sie ein Luftballon, den er füllen wollte. Warum hatte sie das nicht sofort begriffen? Er füllte sie mit Luft, wie sollte er sie sonst mit sich nehmen? Immer wieder drückte Menachem ihre Brust, und dann beugte er sich über sie und blies Luft in sie hinein. Sie spürte, wie sie leichter und leichter wurde. Sie hatte kein Bedürfnis, ihre Glieder zu bewegen. Es war pure Leichtigkeit, die sie erfüllte,

Weitere Kostenlose Bücher