Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
setzte eine gewichtige Miene auf.
»Es gibt Neuigkeiten«, erklärte er und setzte sich nun doch in einen der breiten Ledersessel auf der anderen Seite des flachen Teakholztisches, der zwischen ihm und Bashtiri stand. »Doktor Swerew hat Archive durchwühlt und dabei herausgefunden, dass es im Februar 1905 einen Gefangenentransport den Jenissei hinauf gab, bei dem unser Student, der angeblich an der roten Ruhr gestorben ist, dabei war. Sein Name lautete Pjotr Agollov, er gehörte tatsächlich dem Polytechnischen Institut von Sankt Petersburg an. Aber das ist noch nicht alles. Er wurde von einem Leonard Michail Schenkendorff begleitet, der zuvor unter ebenso seltsamen Umständen aus Sankt Petersburg verschwunden ist. Laut den Gefangenenlisten der Peter-und-Paul-Festung war er dort inhaftiert und hat sich angeblich im Januar 1905 das Leben genommen. Sein Vater, ein deutscher Ingenieur, hat darauf beinahe eine diplomatische Krise heraufbeschworen, weil er behauptete, das Zarenregime habe seinen Sohn auf dem Gewissen. Per Petition hat er |219| sich mit der Unterstützung deutscher Diplomaten an die Zarin gewandt und die Herausgabe der Leiche gefordert, die ihm jedoch niemand zeigen konnte. Kein Wunder! Nach den vorgefundenen Dokumenten zu urteilen, war Schenkendorff zu diesem Zeitpunkt noch am Leben.«
»Und?« Bashtiri schaute Lebenov verständnislos an. Nicht nur weil der ehemalige Offizier des FSB ihm vom Schicksal zweier in seinen Augen völlig uninteressanter Personen berichtete, fragte er sich, worauf Lebenov hinauswollte.
»Schenkendorff ist der Urgroßvater unseres Leonid Borisowitsch Aldanov. Einer meiner Leute hat die Abstammungsunterlagen von Aldanovs Familie durchgesehen. Aldanovs Großmutter ist eine geborene Schenkov. Später heiratete sie Makar Charitonowitsch Schirov, den jetzigen Stammesältesten dieser Gegend. Wie sich bei weiteren Nachforschungen herausstellte, hieß ihr Vater eigentlich Schenkendorff. Nach der Oktoberrevolution musste er sich 1923 registrieren lassen. Sein Name wurde in Schenkov geändert. Also muss er noch gelebt haben, als er nach Sibirien deportiert wurde. Und er hat – obwohl er doch angeblich Selbstmord begangen hat – Jahre später eine Tochter und einen Sohn gezeugt, und zwar hier in dieser Region. Zudem kannte er offenbar den Besitzer der Taschenuhr.«
»Und wie sollte uns das helfen? Ich kann dir nicht folgen, oder liegt es daran, dass du beim FSB warst und ich nicht?«
»Irgendetwas ist faul an der Geschichte, Sergej. Um das zu erkennen, muss man nicht beim Geheimdienst gearbeitet zu haben. Ich habe die Aluminiumstange in unser Labor in Irkutsk übersandt. Dort wird man herausfinden, wie lange sie schon in diesem See gelegen hat. Gleich morgen früh werde ich mir diesen Schirov vorknöpfen. Schließlich war Schenkendorff sein Schwiegervater. Also muss er auch wissen, was dieser Kerl hier zu suchen hatte und wie dessen Kommilitone in den See gelangt ist. Außerdem kann ich ihn ganz nebenbei zum Tod seines Enkels befragen.«
Mit dem Hinweis, dass sie sich nicht wohlfühle und dringend schlafen müsse, verabschiedete sich Viktoria zur Nacht. Theisen hatte gefragt, ob er sie zu ihrer Baracke begleiten solle, doch sie hatte brüsk abgelehnt. |220| Wenn überhaupt hätte sie sich noch gerne mit Kolja unterhalten, weil er der Einzige zu sein schien, der ihr etwas über Bashtiri und dessen Absichten erzählen konnte. Doch der Russe hatte beim Abendessen gefehlt, und auch das Fenster in seiner Baracke war dunkel. Vielleicht spielte er mit Lebenovs Soldaten Karten und half ihnen dabei, die schrecklichen Vorkommnisse des Tages im Wodka zu ertränken. Aus ihrer Baracke drangen lautstarke Stimmen, offenbar war eine heftige Diskussion darüber entbrannt, warum einer ihrer Kameraden einen anderen erschossen hatte.
Während Viktoria in ihrem Zimmer die schweren Stiefel schnürte, überlegte sie, ob sie einen Rucksack mitnehmen sollte, doch dann verzichtete sie darauf. Stattdessen legte sie sich ein Handtuch über die Schulter und nahm eine Rolle Toilettenpapier in die Hand – geradeso, als ob sie zu den Waschräumen schlendern wollte. Hinter dem Gebäude gab es eine Lücke im Zaun, die zu einer Sickergrube führte. Der Gestank, der von dort aus zum Camp hinüberwehte, war nicht gerade einladend, außer ein paar blutrünstigen Insekten würde sich kaum jemand dorthin verirren.
Sobald sie den Zaun überwunden hatte, würde sie einen kleinen Abhang hinunter zum Ausgang des Camps
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