Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
sie Stein und Bein geschworen, bei einem Mann niemals auf solche Äußerlichkeiten zu achten.
Hier mitten in der sibirischen Taiga erschienen ihr solche Gedankenspiele noch absurder als je zuvor, und die Frage, was sie hier eigentlich tat, wurde immer drängender.
Wenig später erreichten sie die Schotterpiste, die Lebenov und seine Männern nutzten, wenn sie, statt mit dem Helikopter zu fliegen, mit dem Geländewagen nach Vanavara fahren mussten.
Leonid nahm eine geduckte Haltung an, als sie sich der Straße näherten. Viktoria tat es ihm nach, wobei sie sich fragte, wer ihnen hier so spät am Abend begegnen sollte – außer Bären oder Wölfen, deren Heulen manchmal zu hören war.
»Warte«, flüsterte sie und hielt für einen Moment inne.
Leonid blieb stehen und sah sie im Halbdunkel fragend an. In wenigen Worten berichtete sie ihm vom rätselhaften Tod des Soldaten.
Er sah sie nur an und zuckte mit den Schultern. »Denkst du etwa, ich hätte etwas damit zu tun?«
Der Kerl konnte Gedanken lesen, und doch schüttelte sie energisch den Kopf.
|223| »Wo willst du überhaupt hin?« Erneut keimten Zweifel in ihr auf. Sie musste verrückt sein. Was wäre, wenn er ihr, am Ziel angekommen, ohne mit der Wimper zu zucken, die Gurgel umdrehte – oder sie gefangen hielt, vergewaltigte und ihr anschließend einen qualvollen Tod bescherte? Im Camp würde niemand wissen, wo sie abgeblieben war.
Leonid schien ihr Zögern zu bemerken.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, antwortete er auf Deutsch. »Ich dachte, wir gehen in meine Hütte. Da ist es etwas gemütlicher als hier mitten im Wald.«
Wenn er sie hatte verblüffen wollen, so war es ihm gelungen.
Langsam schlichen sie weiter. Als sie den Rand der Piste erreicht hatten, sah er sich suchend um, bevor er das Kommando gab, die freie Strecke im Laufschritt zu überqueren.
»Wo ist dein Hund?«, fragte sie atemlos, nachdem sie erneut in den lichten Wald eingetaucht waren.
»Zuhause.« Mit einem angedeuteten Lächeln sah er auf sie herab. »Er hat Arrest. Bei unserer letzten Begegnung mit Lebenovs Männern hätte uns sein unüberlegtes Verhalten beinahe das Leben gekostet. Deshalb wollte ich heute Abend kein Risiko eingehen.«
Viktoria verspürte eine neue aufflackernde Unruhe und erwiderte seinen Blick mit aufgerissenen Augen. »Was bedeutet, es hat euch beinahe das Leben gekostet?«
»Das ist eine längere Geschichte«, erwiderte Leonid dunkel. »Wenn du willst, erzähle ich sie dir, sobald wir angekommen sind.«
Gut eine Stunde waren sie durch das unwegsame Gestrüpp gelaufen, dann deutete Leonid in der Dämmerung auf einen Bach, der den Zugang zu seiner Hütte markierte. Viktoria warf ihre halblange Mähne zurück und nutzte die kleine Pause, um zu verschnaufen, als er unvermittelt stehen blieb, um sich zu vergewissern, ob er nicht zu schnell vorangegangen war.
Ihr ebenmäßiges Gesicht mit den großen grünen Augen und den schwungvoll gebogenen Brauen erinnerte ihn an die Marienbilder, die seine Großmutter auf ihren vielen Ikonen verehrte. Viktoria war kein Mädchen, das Make-up benötigte, um gut auszusehen. Ihre Schönheit bereitete ihm schmerzhafte Erinnerungen an eine Zeit, die er lieber |224| weit hinter sich gelassen hätte. Es war noch nicht zu lange her, dass er ein ähnlich schönes Gesicht in seinen Händen gehalten hatte: weiß und leblos, mit vollen Lippen, aus deren Mundwinkel das Blut geronnen war wie in einem schlechten Film über Vampire.
In der Hölle spielt die Schönheit keine Rolle, hatte Anna erwidert, als er ihr ein Kompliment gemacht hatte; sie hatte damit gemeint, dass es durchaus von Nachteil sein konnte, wenn man so schön war, dass man die Aufmerksamkeit der Mächtigen erregte, die sich manchmal daran ergötzten, wenn sie etwas besonders Schönes zerstören konnten.
»Da vorne ist es«, sagte er schlicht, und dabei sah er Viktoria herausfordernd an, als ob er nochmals sicherstellen wollte, dass sie aus freien Stücken mit ihm kam.
»Wo?« Sie lächelte unsicher, während sie versuchte, zwischen Sträuchern und Bäumen etwas auszumachen, das einem Haus gleichkam. Eine plötzliche Furcht, ob sein Zuhause nicht doch zu bescheiden ausfiel, ließ sein Herz heftiger schlagen. Doch als sie an der Hütte angekommen war, entwich ihr ein Laut puren Erstaunens.
»Unglaublich!«, rief sie aus. »Das Haus ist wunderschön, und man sieht es tatsächlich erst, wenn man kurz davor steht.«
»Darf ich bitten«, antwortete er galant und
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