Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
bitten?«
Aslan hatte sich von seiner Gebetsmatte erhoben.
»Allah ist groß«, erklärte der Muslim. »Und seine Güte ist noch weit größer, als ein einzelner Mensch es ermessen könnte.«
Punkt sechs in der Frühe saßen sie in der Kantine und löffelten hastiger als sonst ihren Brei, und noch bevor sie den Dienst in der Konstruktionshalle antraten, scherten Pjotr und Weinberg aus und baten um eine Audienz in der Baracke des Kommandeurs.
Igor Igorewitsch Lobow saß in seinem Büro hinter einem monströsen Schreibtisch und schälte sich einen Apfel, als sein Adjutant das Ansinnen der beiden Wissenschaftler vortrug.
»Sie wollen ein Gespräch und behaupten, es sei dringend«, erklärte der junge Soldat mit einer Miene der Rechtfertigung.
Lobow war kein Unmensch, und in seinen Augen konnte es nur gut sein, wenn sich die Laune seiner Chefkonstrukteure nicht nachhaltig verschlechterte. Es reichte vollkommen, dass man sie unter Zwang hierher gebracht und gewissermaßen zu Leibeigenen gemacht hatte. Dabei gab es für ihn nur zwei Möglichkeiten, mit denen man sie sich auf Dauer gefügig machen konnte: Angst oder Freude.
»Sollen reinkommen«, brüllte Lobow knapp, und gleichzeitig ließ er das Messer und den Apfel in einer Schublade verschwinden.
Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, nahmen die beiden Bittsteller vor dem Schreibtisch des Kommandeurs Aufstellung – ganz so, wie es die Regeln des Lagers verlangten.
»Was kann ich für euch tun?« Lobow setzte die Miene eines gütigen Vaters auf und faltete die Hände.
Weinberg räusperte sich kurz, bevor er zu sprechen begann. »Es geht um Leonard Schenkendorff.« Er zögerte einen Moment. »Wir sehen noch eine Möglichkeit, wie er wieder gesund werden könnte.«
Lobow sah ihn eine Weile nachdenklich an, dann erhob er sich von seinem Stuhl und ging zum Fenster.
|254| »Schenkendorff«, wiederholte er tonlos und kehrte seinen Besuchern den Rücken zu. »Ich kann mir nicht vorstellen, was ihm noch helfen sollte.« Er wandte sich um und sah Weinberg mit entwaffnender Ehrlichkeit an. »Ich habe Doktor Primanov den Auftrag erteilt, dass er ihm eine Überdosis Morphium verabreichen kann, wenn feststeht, dass er im Koma verbleibt.«
Pjotr hatte für einen Moment das Gefühl, dass ihm jemand mit der Faust in den Magen schlug. Weinberg hingegen erhob seine Stimme erneut.
»Schenkendorffs Kameraden haben mir von einer wundersamen Heilung erzählt, die ausgerechnet dem Sohn des alten Wassiljoff zuteilgeworden sein soll, bevor er mit seiner verbliebenen Familie das Lager erreichte. Ein Schamane hat ihm nach dem furchtbaren Schlittenunfall nicht nur das Bein vollständig geheilt, sondern ihn zugleich von seiner Schwindsucht befreit und ihn ins Leben zurückgeholt.«
»Hat dieser Schamane einen Namen, oder existiert er nur in den Hirnen von einigen verwirrten Gefangenen?« Lobow war der Spott anzusehen, den er bei Weinbergs Ausführungen empfand.
»Sein Name ist Tschutschana oder so ähnlich«, antwortete Pjotr mit fester Stimme. »Er ist der Vater des jungen Jämschtschiks, der uns mit seinem Schlitten hierher gebracht hat. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er das Wunder vollbracht hat. Das Bein des Jungen war gebrochen, ein Holzsplitter hatte den Oberschenkel durchbohrt. Wir saßen alle in dem großen Tungusenzelt, und vor unseren Augen hat der Schamane seltsame Gebete gesprochen und sich in Trance getanzt. Dann ist er über dem Kind zusammengebrochen, und als er aufstand, war der Kleine geheilt. Am nächsten Morgen konnte Mitja mühelos laufen, und dort, wo zuvor eine tiefe, hässliche Wunde klaffte, war alles verheilt. Nur eine einzige feine weiße Narbe war an der Stelle geblieben. Wenn Sie es nicht glauben können, lassen Sie den Jungen holen und schauen sich das Bein an.«
»Und Weinberg? Sie sind der Wissenschaftler. Haben Sie eine Erklärung dafür, wie so etwas vonstattengehen kann?«
»Nein, Igor Igorewitsch, ich weiß es nicht«, gab der Jude ehrlich zu, wobei er es tunlichst vermied, seinen Glauben ins Spiel zu bringen. »Aber gerade das macht die Sache für mich interessant. Wenn es dem |255| Mann gelingen würde, Schenkendorff zu heilen, würde ich den Vorgang aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers protokollieren, und damit bekämen wir vielleicht eine Ahnung, wie es funktioniert.«
»Und wenn es nicht funktioniert?«
Weinberg atmete tief durch und bedachte den Lagerkommandanten mit einem durchdringenden Blick. »Dann können wir
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