Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Man hat mich beauftragt, eure wissenschaftlichen Arbeiten zu überwachen und dafür zu sorgen, dass ihr nicht in Gegenden forscht, die nicht zu dem vereinbarten Untersuchungsradius gehören. Ganz nebenbei wurde ich angewiesen, Bashtiri und seinem Herzensbruder Lebenov auf die Finger zu schauen. Sie sind anscheinend längst nicht so honorig, wie sie sich geben.«
»Du machst Witze!« Viktoria sah ihn ungläubig an. »Wir werden überwacht? Zusammen mit Bashtiri und Lebenov?« Dass die beiden alles andere als seriös waren, wusste sie mittlerweile.
Jedoch hätte sie nicht damit gerechnet, nach allem was Leonid ihr erzählt hatte, dass man ihnen auch von offizieller Seite misstraute. »Warum? Wir machen hier nur unsere Arbeit, und das nicht nur mit Genehmigung der russischen Behörden, sondern auf deren ausdrücklichen Wunsch.«
Kolja antwortete nicht direkt, sondern krallte seine kräftigen Finger schmerzhaft in ihre Oberarme. Hatte sie noch bis vor kurzem gedacht, er wäre ein Schwächling, so wurde sie jetzt eines Besseren belehrt. Der Versuch, sich ihm zu entwinden, scheiterte kläglich.
»Hör zu, Mädchen«, zischte er ihr in einem verschwörerischen Ton zu, »die russische Regierung hat nicht das geringste Interesse daran, dass bei dieser Untersuchung etwas anderes zutage kommt als der Einschlag eines gigantischen Meteoriten. Alles andere würde nur unnötige Fragen aufwerfen und die Pläne zu einem geplanten Meteoritenabwehrsystem durchkreuzen.«
Viktorias Miene verriet Erstaunen. »Meteoritenabwehrsystem?«
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff. »Kann es sein, dass dieses Meteoritenabwehrsystem ein hervorragendes Alibi für die weitere Aufrüstung des Landes liefert? In Wahrheit geht es Russland gar nicht um die natürliche Bedrohung aus dem All, sondern um eine nukleare, deren Abwehr sich hinter einer wissenschaftlichen Argumentation verbirgt. Wenn ein deutscher Professor die Notwendigkeit eines Meteoritenabwehrsystems unterstreicht, wird die internationale Völkergemeinschaft keinen Protest einlegen, weil niemand daran zweifelt, dass man es für etwas anderes einsetzen würde als zur Abwehr von Meteoriten. Ist es so?«
|252| »Das hier ist kein Spiel«, erwiderte Kolja ungeduldig. »Also, wenn du so dumm sein solltest, die Klappe aufzureißen und deine Kollegen oder unsere Gastgeber über unsere Entdeckung oder meinen Auftrag zu informieren, kann es nicht nur meinen Kopf kosten.«
Viktoria nickte wie betäubt. Offenbar waren Koljas Auftraggeber einzig und allein daran interessiert, dass ihnen niemand bei der Verwirklichung ihrer Pläne in die Quere kam. Ganz einerlei, ob es sich dabei um einen windigen Oligarchen oder einen ambitionierten Professor handelte. Unter diesen Umständen war es klug gewesen, Leonids Existenz vor Kolja geheim zu halten.
»Kein Wort«, sagte Kolja, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Dann zog er sie einen Hügel hinauf zu einem morastigen Rentierpfad, auf dem man den See zu Fuß umrunden konnte.
»Verstanden«, hauchte Viktoria atemlos und sah für einen Moment zurück auf die Stelle, wo Leonid in einem finsteren Grab festsaß. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
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19
Juli 1905, Sibirien – Baum der Erkenntnis
Der nächste Tag war ein Freitag, und Professor Isaak Weinberg plagte das erste Mal, seit man ihn in dieses Lager verschleppt hatte, kein schlechtes Gewissen, weil er mit seiner Arbeit die Gesetze des Shabbats missachtete. Nachdem er sich ausgiebig gewaschen hatte, klopfte er Pjotr, der sich sorgfältig die Haare kämmte, aufmunternd auf die Schulter.
Pjotr beobachtete, wie Weinberg eine saubere Joppe vom Bügel nahm und hineinschlüpfte, bevor er noch eine Minute vor seinem improvisierten Altar verbrachte. Der junge Russe war im Gegensatz zu dem viel älteren Juden im Glauben der christlich-orthodoxen Lehre erzogen worden, und obwohl er nie ein fleißiger Kirchgänger gewesen war, verspürte er plötzlich ein mulmiges Gefühl.
»Denkst du, Isaak, Gott wird es verstehen, wenn wir sozusagen bei seiner Konkurrenz um Hilfe ersuchen«, fragte er seinen grauhaarigen Mitgefangenen leise.
|253| »Gott wird uns erhören, ganz gleich, durch wen oder was wir ihn darum bitten«, antwortete der Professor mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Selbst wenn das, was wir vorhaben, nicht unbedingt in sein Konzept zu passen scheint. In meinem Glauben gibt es nur einen Gott, und warum sollte es schaden, ihn mit der Hilfe der Einheimischen um etwas zu
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