Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
wenigstens sagen, dass wir nichts unversucht gelassen haben.«
Drei weitere quälende Tage gingen ins Land, bis Tschirin, der junge Tunguse, mit einer Ladung Holz ins Lager kam. Er hockte auf einem prächtigen Rentier und führte einen langen Zug von gut zwanzig anderen Rentieren an. Im Sommer war es unmöglich, auf den eingefahrenen Wegen einen Wagen statt eines Schlittens zu benutzen. Knietiefer Morast und unzählige Schlaglöcher hätten jede Achse gebrochen. Jenseits der üblichen Lagerregeln durfte Pjotr den jungen Tungusen am Eingangsportal begrüßen. Tschirin erkannte ihn sofort und sprang von seinem Rentier ab. Er trug eine bunt verzierte tungusische Lederhose und ein Hemd, an dem Perlen und Federn baumelten. Das schwarze Haar hatte er zu einem Zopf gebunden. Seine weißen Zähne leuchteten in seinem sonnengebräunten Gesicht, als er den Mund zu einem breiten Grinsen verzog.
Als Pjotr ihn im Beisein von zwei Wachleuten umarmte, konnte er spüren, dass der Tunguse sich aufrichtig freute, ihn bei guter Gesundheit zu sehen. Umso entsetzter war Tschirin, als Pjotr ihm von Leonards Schicksal berichtete.
»Ich kann nicht für meinen Vater sprechen, ob er bereit ist, einem Russen zu helfen. Zumal er in diesem Lager lebt. Aber ich werde versuchen, ihn von eurer Rechtschaffenheit zu überzeugen, damit er die Geister, die von Leonards Seele Besitz ergriffen haben, wieder vertreibt. Schließlich habe ich es euch versprochen.«
Pjotr spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. »Leonard ist kein Russe, sondern ein Deutscher, und ich bitte dich inständig, bei deinem Vater ein gutes Wort für ihn einzulegen«, beschwor er den jungen Jämschtschik. »Wenn er uns nicht helfen will, ist Leonard verloren. Es geht hier nicht um den Fortschritt unserer Arbeit, sondern vor allem um Leonards Überleben. Er hat eine Frau, die er liebt und die sein |256| Kind unter dem Herzen trägt. Sie lebt in einem Lager in Tomsk, und man wird sie vermutlich töten, wenn er dem Zaren nicht mehr nützlich sein kann. Tschirin, es ist sehr wichtig. Wir haben sogar den Lagerkommandanten dazu überreden können, dass er uns die Erlaubnis erteilt hat, deinen Vater in der Sache zu empfangen.«
Tschirin überlegte nicht lange. »Gut«, sagte er leise. »Ich werde tun, was in meiner Macht steht.«
Es dauerte noch einen Tag und eine Nacht, bis Tschutschana, einer der mächtigsten Schamanen Sibiriens, mit großem Gefolge im Tal ohne Wiederkehr erschien. Bereits von weitem waren die Glöckchen der Rentiere zu hören, als die bunte Truppe gegen Nachmittag das Lager erreichte. Tschutschana hatte nicht nur seinen persönlichen Gehilfen mitgebracht, sondern neben seinem einzigen Sohn weitere zwölf Männer seiner Sippe, die ihm Kraft und Schutz verleihen sollten.
Lobow empfing den in Kreisen der Tungusen hochgestellten Mann mit diplomatischen Ehren. Er ließ die Wachmannschaften in Zweierreihen antreten und behandelte seinen ungewöhnlichen Gast mit äußerster Höflichkeit, obwohl ihm der Kerl mit den ausgemergelten dunklen Gesichtszügen mehr als seltsam erschien. Seine stechend grauen Augen wirkten unheimlich, und seine Aufmachung – ein Lederumhang aus Rentierhaut mit etlichen Knochen und Federn – tat ihr Übriges. Auf dem Kopf trug er eine Art ledernen Helm mit einer Wolfsschnauze daran, die auf Höhe der Stirn über sein Gesicht herausragte und mit seiner hervorspringenden Falkennase in Konkurrenz trat. An der Seite wippten zwei Wolfsohren bei seinen schnellen Schritten um die Wette. Lobow fragte sich ernsthaft, wie der Mann an Schenkendorffs Zustand etwas ändern sollte. Laut Primanov wurde der Zustand des jungen Deutschen immer kritischer; es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, bis er endgültig verstarb.
Tschutschana begab sich wie ein König mit seinem Gefolge quer durch das Lager hin zu der Baracke, wo man Leonard isoliert von allen übrigen Insassen untergebracht hatte. Obwohl ihm niemand gesagt hatte, wo der Patient zu finden sei, blieb der Schamane auf Anhieb vor der richtigen Hütte stehen. Ein Zeichen, wie Pjotr hoffnungsvoll bestätigte, als Weinberg ihn fragend anschaute.
|257| Tschutschanas Männer bildeten vor dem Eingang der Baracke einen Halbkreis und zündeten aus einem Vorrat von mitgeführtem Tannenholz ein Feuer an. Lobow, der kein offenes Feuer im Lager duldete, war nahe dran zu protestieren, doch Primanov hielt ihn zurück.
»Darf unser Arzt die Zeremonie begleiten?«
Lobows Frage war töricht, wie Pjotr
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