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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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befand. Er konnte sich denken, dass ein Schamane sich nicht in die Karten schauen ließ. Sein Gehilfe schüttelte wie erwartet den Kopf.
    »Dies ist ein schwerer Fall«, verkündete Tschutschanas kleinwüchsiger Begleiter mit hochnäsiger Stimme. »Es kann sein, dass die Geister und Dämonen ein Opfer fordern. Deshalb rate ich niemandem, den Kreis der Zwölf zu durchbrechen, bevor unser Meister sein Werk vollendet hat.«
    Tschutschana sah sich nicht um, als er ganz allein das Gebäude betrat. In seiner Hand befanden sich lediglich eine Trommel und ein qualmender Tannenzweig, an dem das Feuer erloschen war. Die Tür schloss sich hinter dem weisen Mann, und sofort trat ein Raunen unter den Zuschauern ein, das auf ein zorniges Zeichen seines Gehilfen sofort wieder verstummte.
    »Jetzt heißt es beten«, flüsterte Aslan, der in einer Traube von Menschen hinter dem Kreis der zwölf Männer die Rückkehr des weisen Mannes erwartete.
     
    Leonard schwebte seit Tagen im Raum. Das hatte zumindest den Vorteil, dass er keine Schmerzen mehr verspürte und sein geistiges Augenlicht einwandfrei funktionierte und er alles von oben betrachten konnte: den Arzt, wie er sich mühte, ihn ins Leben zurückzuholen; die Krankenschwester, die regelmäßig die Windeln wechselte und ihm mit einem Gummischlauch Tee einflößte; Pjotr, Weinberg und Aslan, die ihn täglich besuchten – und ja, auch Kissanka, die ihm allabendlich ein Klagelied sang. Wie gerne hätte er sie in den Arm genommen und getröstet! Er hatte ihr verziehen, ihr und ihrem gewalttätigen Vater, dessen Geist ihm immer häufiger Gesellschaft leistete, weil auch dessen Leib kein sicherer Hort mehr zu sein schien. Manchmal schwebten sie gemeinsam über das Lager, bis hoch zu den Hängen des Pijaja-Gebirges, zusammen mit den Adlern, die den Abendwind nutzten, um ihre Kreise zu drehen. |258| Dann stellte sich ein Gefühl des vollkommenen Friedens ein, und weder Leonard noch der alte Wassiljoff konnten verstehen, warum die Welt so verrückt war, sich selbst zu zerstören, warum Menschen andere Menschen hassten, ja sie sogar töteten und warum sie es zuließen, dass ihre Seelen, vom Neid vergiftet, das eigene Herz zerfraßen, bis es aufhörte zu schlagen – und warum niemand die wahre Schönheit des Lebens erkannte, die weit jenseits der irdischen Schönheit lag.
    Dieser Zustand hätte ewig so andauern können. Leonard verspürte nicht die geringste Lust, jemals wieder etwas daran zu ändern.
    Vielleicht überkam ihn deshalb eine leichte Beunruhigung, als er von seiner sicheren Zimmerdecke aus den seltsam anmutenden Mann erblickte, der sich im Gegensatz zu den anderen Besuchern nicht für seinen Leib interessierte, sondern direkt zu ihm aufschaute. Schlagartig wusste Leonard, wen er vor sich hatte: Tschutschana, den Vater des jungen Tschirin. Der Schamane verzog das Gesicht zu einer missmutigen Grimasse, und wenn sich Leonard richtig erinnerte, hatte er damals in der Jurte nicht anders ausgesehen.
    »Komm darunter!«, forderte der Schamane ihn barsch auf. »Du hast dort nichts verloren. Deine Zeit ist noch nicht gekommen.«
    Leonard schüttelte im Geiste den Kopf. »Ich will nicht«, antwortete er wie ein trotziges Kind.
    »Also gut«, sprach der Schamane und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Dann begann er seine Trommel zu schlagen, erst leise und dann immer lauter, während er seinen Oberkörper in einer tranceartigen Ekstase wiegte, solange bis er augenscheinlich das Bewusstsein verlor und sich rücklings auf den Boden legte. Kraft seiner neu erworbenen Fähigkeiten war es Leonard möglich zuzusehen, wie der Geist des Schamanen den Körper verließ. Erst waagerecht in der gleichen Form, wie er den physischen Körper ausgefüllt hatte, dann rollte er sich in einem atemberaubenden Tempo zu einer nebulösen, dunklen Kugel zusammen und drang blitzartig in Leonards Körper ein. Ein Ruck ging durch seinen Leib, und seine Augen öffneten sich so weit, dass es den Anschein machte, als würden sie herausquellen.
    »He!«, konnte er noch rufen, dann schnellte ein Lichtstrahl zu ihm hin und stellte eine Verbindung her. So verrückt es Leonard auch erschien: Die Seele des Schamanen umwickelte Leonards Seele wie mit |259| einem Gespinst und zwang ihn dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen war. Der Aufprall war mörderisch. Von einer Sekunde zur nächsten erfüllte ihn ein wahnsinniger brennender Schmerz. Er schrie um sein Leben, doch seine Lippen blieben stumm. Es war wie

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