Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
die Jahre gekommenen Frauen mit Ajaci um die Wette schnarchten.
»Ich frage mich, woher man weiß, dass du inzwischen deine Haare gefärbt hast?«, flüsterte Leonid mit einem vorsichtigen Blick auf die älteren Damen.
Viktoria überlegte einen Moment. »Ich habe in der Bank in Krasnojarsk Doktor Parlowa getroffen«, gestand sie kleinlaut. »Sie war die leitende Ärztin im Camp und gehört zu Bashtiris Mannschaft.«
»Du hast was?« Leonids Kopf schnellte herum.
»Ich wollte es dir sagen, aber ich habe gedacht, dass es nicht so wichtig ist … Außerdem wollte ich dich nicht beunruhigen. Doktor Parlowa hat mich angesprochen, aber ich habe ihr nicht geantwortet und bin gleich hinausgelaufen, in der Hoffnung, dass sie mich vielleicht doch nicht erkannt hat.«
Er seufzte leise.«Möglicherweise hat sie ihre Beobachtung gleich an die richtigen Stellen weitergegeben.«
»Da ist noch was, das ich dir hätte sagen sollen.«
»Was denn noch?«
Viktoria Stimme klang schuldbewusst. »Ich habe mit meiner Mutter |464| telefoniert – nur ganz kurz. Es war, bevor du das Handy abgeschaltet hast. Ich wusste ja nicht, dass es gefährlich sein könnte.«
»In Russland haben die Wände seit jeher Augen und Ohren«, stellte Leonid klar. »Merk dir das für die Zukunft! Ich bin schon gespannt, wer uns alles in Moskau erwartet.«
Als sie in Moskau am Jaroslawler Bahnhof ankamen, beschlich Viktoria ein ungutes Gefühl.
Leonid sagte nichts, aber die Art, wie er in dem Jugendstilpalast aus feinstem Marmor von Rundbogen zu Rundbogen und von Säule zu Säule hastete, gefiel ihr nicht. Immer wieder hielt er inne und schaute sich um. Es wimmelte geradezu von Menschen, und Viktoria konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer sie in diesem Gewusel finden sollte.
»Lass uns einfach hinausspazieren! Wir nehmen ein Taxi, dann sind wir in zwanzig Minuten bei der deutschen Botschaft«, schlug sie vor.
»Zwanzig Minuten?« Leonid grinste belustigt, während er sie und den Hund erbarmungslos voranzog. »Du kennst den Moskauer Verkehr anscheinend nicht. Die Boulevards sind ständig verstopft, besonders am Morgen. Mit der Metro sind wir um einiges schneller. Außerdem arbeiten die meisten Taxifahrer nebenbei für den Geheimdienst. Ihnen werden wir die Geschichte mit den Schafen nicht verkaufen können. Wenn wir Pech haben und uns einer der Fahrer erkennt, fährt er uns geradewegs zum Hauptquartier des FSB.«
In der ganzen Aufregung hatte Viktoria beinahe vergessen, dass ihnen nicht nur Bashtiri, sondern auch die russische Polizei auf den Fersen war. Gehorsam folgte sie Leonid über den weitläufigen Komsomolskaja-Platz zum U-Bahn-Verteiler, dessen oberirdisches Gebäude an einen griechischen Tempel erinnerte. Der Blick in den klaren, eisblauen Morgenhimmel versprach einen außergewöhnlich schönen Sommertag. Obwohl Leonid hier nicht zu Hause war, bewegte er sich, als würde er sich bestens auskennen. Am Fahrkartenschalter stutzte er einen Augenblick. »Ich brauche Geld.« Er schaute sie leicht spöttisch an und hielt seine rechte Hand auf.
Hastig suchte Viktoria in ihrer weißen Lackledertasche, die sie seit Krasnojarsk nicht aus den Händen gelegt und in der Nacht als Kopfkissen genutzt hatte, nach ein paar Scheinen und Münzen.
|465| »Wo müssen wir überhaupt hin?« Interessiert beobachtete sie ihn, wie er die Preise studierte.
»Das fragst du mich?« Erstaunt drehte er sich um.
»Zur deutschen Botschaft, denke ich.« Viktoria sah ihn treuherzig an.
»Und wo befindet die sich?«
»Keine Ahnung, aber ich könnte anrufen. Ich habe bei meiner Visabeantragung eine Servicenummer erhalten, die ich in mein Mobiltelefon eingespeichert habe. Ich meine«, schob sie entschuldigend hinterher, während sie ihr Handy zückte, »so schlimm kann es doch nicht sein, wenn ich mal telefoniere, oder?«
»Fass dich kurz«, raunte Leonid ihr zu. »Solange ich dich nicht heil dort abgeliefert habe, sind wir nirgendwo sicher.« Nach etwa fünf Minuten wusste Viktoria nicht nur die Adresse. Die freundliche Dame am Telefon informierte sie beiläufig, dass gestern Nachmittag zwei deutsche Kollegen im Hause eingetroffen seien.
»Wir müssen uns beeilen«, erklärte Viktoria, nachdem sie aufgelegt hatte. »Rodius und Theisen sitzen bereits in der Botschaft.«
»Verdammt«, entfuhr es Leonid. »Wahrscheinlich weiß der FSB längst, dass wir hier sind.« Im Eilschritt hastete er mit ihr mehrere Treppenabgänge hinunter, immer darauf bedacht, dass
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