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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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herausbrechen, was er seit Monaten zurückgehalten hatte. Bevor Tschirin ihn aufhalten konnte, rannte er auf seinen dürren Beinen, getragen von einer unheimlichen Kraft, durch das unbewachte Tor hinunter zur ehemaligen Kantine.
    »Leonard!« In ohnmächtiger Angst rief Tschirin hinter ihm her, während er ihm atemlos folgte. Falls Truppen des Zaren postiert waren, die den Auftrag hatten, die zerstörten Anlagen zu bewachen, befanden sie sich in höchster Gefahr.
    »Katja!« Leonard rannte und brüllte, stolperte im Schnee, rutschte ein Stück den Weg hinunter, bis er sich wieder aufrappelte und über den ehemaligen Appellhof lief.
    Wie erstarrt blieb er stehen. Fassungslos stierte er über die Berge von Trümmern zu jenem Platz, auf dem einst das Versorgungsmagazin und damit ihre Wohnung gestanden hatte. Ein alter Mann in einem schmuddeligen Pelz kam ihm entgegen. In seinen gichtigen Fingern trug er eine Friedhofsschaufel. Tschirin, der Leonard dicht gefolgt war, hielt für einen Moment den Atem an, als weitere Arbeiter aus der einzig noch vorhandenen, windschiefen Baracke auftauchten.
    »Was habt ihr hier zu suchen?«, blaffte der Alte und beäugte sie misstrauisch. Der Mann war Leonard unbekannt, und auch die anderen hatte er nie zuvor gesehen.
    »Wo sind die Baracken und die Menschen, die in ihnen gewohnt haben?«
    »Warum willst du das wissen?« Der Alte kratzte sich den grauen Bart und sah ihn prüfend an.
    »Ich suche eine Frau und ein Kind. Sie haben vor nicht allzu langer Zeit hier gelebt. Dort drüben.« Leonard hob seinen Arm und zeigte auf einen leeren verschneiten Platz, an dem sich nur noch das steinerne Fundament des ehemaligen Versorgungsmagazins abzeichnete.
    »Sie sind fort«, sagte der Mann mit leiser, vorsichtiger Stimme.
    |458| »Fort? Wo hat man sie hingebracht?« Leonard krächzte mehr, als er sprach. Für einen kurzen Moment keimte Hoffnung in ihm auf. »Hat man sie freigelassen?«
    Tschirin war hinter ihn getreten und legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zum Umkehren zu bewegen. Doch Leonard ignorierte ihn.
    »Es kommt darauf an, was du unter Freiheit verstehst, mein Junge.« Der Alte sah ihn mitleidig an, und Leonard verfolgte den Blick des Alten mit ungläubigem Entsetzen, als er zu einem Erdhügel wanderte, der mindestens fünfzig Meter lang und schneebedeckt war.
    Lautlos fiel er auf die Knie und faltete die Hände wie zum Gebet. »Und die Kinder? Wo sind die Kinder?« Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, und seine Augen brannten sich in das versteinerte Gesicht des Alten.
    »Soweit ich weiß, hat man einige von ihnen nach Tomsk gebracht«, erklärte der Alte leise. »Und nun hör auf, mich zu fragen! Ich habe ohnehin schon weit mehr gesagt, als ich dürfte.«
    Leonard war zusammengesunken und schluchzte nur noch. Die Trauer war so überwältigend, dass er glaubte, auf der Stelle sterben zu müssen.
    »Seht zu, dass ihr verschwindet«, raunte der Alte verärgert. »Ihr habt hier nichts verloren.«
    »Da täuschst du dich, Alterchen«, gab Tschirin düster zurück. »Wir haben unsere Seelen verloren, genau hier und in diesem Augenblick.«

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    36
    Juni 2008, Moskau – Jacuzzi
    Den ganzen vergangenen Tag über hatte Oberst Pokrovskij versucht, die beiden Alten aus Vanavara über ihren Vater und ihren Enkel zu befragen. Doch herausgekommen war dabei nichts. Vera Leonardowna und ihr Bruder hatten immer wieder die gleichen stoischen Antworten gegeben. Dass sie nichts weiter über den Vater wüssten, als dass er ein rechtschaffener Mann gewesen sei, und der Enkel sei tot, gefallen im |459| Glanze der Russischen Föderation, für Präsident und Vaterland. Schließlich habe er posthum die Heldenmedaille erhalten – und überhaupt, man frage sich, warum zwei alte Leute, die im 2. Weltkrieg im Widerstand gegen die Deutschen gekämpft hatten, überhaupt eine derartige Prozedur über sich ergehen lassen mussten.
    »Woher soll eine alte Frau wie ich wissen, wer die Männer im Wald auf dem Gewissen hat?«, zeterte Vera Leonardowna. »Denken Sie, ich habe es getan?« Demonstrativ stand sie auf und drehte sich erstaunlich flink einmal im Kreis. »Schauen sie mich an! Ich bin achtzig Jahre alt. Mein Bruder ist noch älter. Wie sollten wir bei völliger Dunkelheit vier kampferprobte Soldaten töten? Was wären das für Kämpfer, wenn sie sich von einer Babuschka oder einem Dedka erschießen lassen wie die Hasen?« Sie räusperte sich mit entrüsteter Miene, bevor sie sich in

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