Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
hören. Mit seinen schwarzen geschnürten Lederstiefeln, der einzigen Erinnerung, die ihm aus seiner Militärzeit geblieben war, stapfte er durch das schattige Dickicht, immer bemüht, in keine der selbst ausgelegten Wildfallen zu treten, die er im Auftrag seines Großvaters betrieb.
Nach etwa drei Kilometern erreichte er den Kimchu, jenen Fluss, |92| der den Chekosee wie eine Ader durchquerte. Bereits vor Minuten hatte Leonid ein leises Grollen vernommen, und Ajaci verhielt sich schon seit geraumer Zeit seltsam unruhig. Lautlos bewegte sich Leonid durch das morsche Unterholz, den Blick angestrengt in die Umgebung gerichtet. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Nur Wald und Wasser. Zu seiner Verwunderung schwoll das sonst so gemächliche Flüsschen mit einem Mal mehr und mehr an. Es schien, als hätte man irgendwo einen Damm geöffnet. Von Ferne erkannte Leonid ungläubig, dass sich ihm eine riesige Welle entgegenwalzte. Es dauerte nur Sekunden, bis die gesamte Böschung überflutet war. Zunächst erwischte es nur seine Füße, doch rasch reichte die kalte Strömung bis zu seinen Knien. Ajaci sprang aufgeregt zur Seite und ließ ein seltenes »Wuff« verlauten, als seine Pfoten die plötzliche Nässe zu spüren bekamen.
Leonid begriff, dass ihnen nur noch die Flucht in höhere Regionen blieb, um nicht mitgerissen zu werden.
Mit mächtigen Schritten lief er eine Anhöhe hinauf, während er sich versicherte, dass Ajaci in seiner Nähe blieb. Aus den Augenwinkeln erkannte er unten im Fluss einen farbigen Gegenstand, der in einer unsteten Bewegung in den Fluten trieb und in schöner Regelmäßigkeit auf- und wieder abtauchte. Leonid hielt im Laufen an einem Baum inne und kniff seine Lider zusammen, um das seltsame Treibgut besser erkennen zu können.
Bei näherem Hinsehen begriff er, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelte, deren Arme und Beine von den sprudelnden Wassermassen hin und her geschlagen wurden. Leonid rannte los. Er achtete nicht mehr auf seinen Hund, auch nicht darauf, dass er schwere Lederstiefel trug. Er warf seinen Rucksack zu einer trockenen Stelle hin und stürzte an Bäumen und Sträuchern vorbei bis zum Rand der Flut. Ohne nachzudenken, streckte er die Arme nach vorne und sprang mit einem Hechtsprung in die braune Brühe. Prustend hielt er seinen Kopf über Wasser und versuchte sich zu orientieren. Die eisigen Temperaturen war er gewöhnt, nicht aber die Kraft, die von dem ungebändigten Element ausging. Der Mensch auf dem Wasser drohte an ihm vorbeizutreiben, und erst im letzten Moment bekam Leonid einen Arm zu fassen. Mit eisernem Griff umklammerte er das Handgelenk. |93| Erstaunt bemerkte er, dass es ein Taucher war, den er aus den Fluten zu retten versuchte.
Während Leonid wild mit seinen Beinen schlug, um sich und den Bewusstlosen über Wasser zu halten, schaffte er es, seinen Griff zu verstärken und mit der anderen Hand den Sauerstofftank des Tauchers zu lösen. Samt Mundstück, das der Taucher längst ausgespuckt hatte, trieb das Geschirr in den Fluten davon. Trotz der Hektik entging Leonid nicht, dass die Lippen des Geretteten bläulich schimmerten. Mit unmenschlicher Anstrengung versuchte Leonid, das Ufer zu erreichen. Eisern hielt er die Brust des Tauchers umklammert und stellte überrascht fest, dass es sich offenbar um eine Frau handelte. Gemeinsam mit ihr schwamm er in die Strömung hinein, um Kraft zu sparen. Gleichzeitig bemühte er sich, näher und näher an das Ufer des plötzlich doppelt so breiten Kimchu zu gelangen, um endlich festen Grund unter die Füße zu bekommen. Ajaci rannte die ganze Zeit am Ufer entlang und stieß ab und an ein lautes Geheul aus, doch sein Wolfsinstinkt hielt ihn davon ab, so unvernünftig zu sein und seinem Herrn in die Fluten zu folgen.
Eine dicke Fichte war es schließlich, die Leonid samt seiner wertvollen Fracht aus der Strömung riss. Schmerzhaft prallten sie gegen den Stamm. Leonid gelang es, sich gegen den Grund zu stemmen und Halt an dem aufrecht stehenden Baum zu finden.
Keuchend schleppte er die Frau an Land. Mit einer herrischen Geste scheuchte er Ajaci davon, dann legte er die Bewusstlose an einer sicheren Stelle auf den Rücken und nahm ihr die Taucherbrille ab. Er sprach sie an und schlug ihr leicht auf die Wangen, doch sie regte sich nicht. Als er ihr die Haube herunterzog, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass es die junge Frau war, die er gestern zufällig in Vanavara auf dem Sportplatz getroffen hatte.
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