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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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Studenten aus Sankt Petersburg handelte, der auf Befehl der geheimnisumwitterten Ochrana in die sibirische Taiga verschickt worden war.
    Der Wirt hatte die Tische und Bänke zur Seite gerückt und Strohmatratzen auf dem Boden ausgelegt. Jede Familie wurde angewiesen, sich zwei Matratzen zu teilen. Leonard musste auf einer Matratze mit Pjotr liegen, dem die Aufregung der vergangenen Stunde noch anzusehen war. Aslan schüttelte verärgert den Kopf. Damit brachte er seine |88| Missbilligung zum Ausdruck, die er Pjotr und erst recht Leonard entgegenhielt, weil sie in seinen Augen so unvorsichtig gehandelt hatten.
    Außerdem knurrte sein Magen, weil sie das Abendessen wegen der Verladeaktion und des anschließenden Tumults verpasst hatten. Leonard gelang es schließlich auf Geheiß des Leutnants, noch ein paar Kanten Brot und einen Krug mit Bier zu beschaffen. Gierig verschlangen sie die harten Stücke und spülten sie mit ein paar hastigen Schlucken hinunter, die sie sich abwechselnd gönnten. Als Leonard einen schrumpeligen Apfel aus der Tasche zauberte, um ihn mit Pjotr zu teilen, fiel sein Blick auf Kissanka und ihren kleinen Bruder. Vielleicht war es kein Zufall, dass sie ihr Lager direkt neben ihm aufgeschlagen hatten. Er spürte den fieberglänzenden, sehnsüchtigen Blick des Jungen, der an dem Apfel haftete, als ob es ein Schatz wäre. Mit einem entschuldigenden Blick, den er Pjotr beiläufig zuwarf, reichte Leonard den Apfel an das Kind weiter.
    Der Junge bedankte sich zaghaft für das unverhoffte Geschenk, das er mit großen Augen entgegennahm.
    »Du bist ein guter Kerl, Leonard«, flüsterte Kissanka ihm zu. Mit einem verhuschten, ängstlichen Seitenblick zu ihren schlafenden Eltern legte sie ihre kleine Hand auf seine viel größere. Einen Moment verharrte sie dort, dann fiel ihr Blick auf die Ketten, die – obwohl Subbota sie für die Nacht gelockert hatte – ihn immer noch an Händen und Füßen gefesselt hielten.
    »Was immer du auch angestellt hast«, sprach sie leise weiter, »Gott wird dir vergeben.« Ihre Fingerspitzen streichelten sacht die blonden Härchen auf seinem Handrücken, und anstatt sich ihnen zu entziehen, schloss er die Augen und genoss ihre Zärtlichkeit. Er stellte sich vor, es wäre Katja und keine Fremde, die ihm für kurze Zeit ein Gefühl der Liebe und Zuwendung gab.
    »Gute Nacht«, murmelte er und rollte sich in seinen wollenen Mantel ein, bevor er sich an Pjotrs Rückseite schmiegte, der wie die meisten Männer im Raum schon schnarchte.
    »Schlaf gut«, flüsterte die Stimme im Hintergrund, und erst da spürte Leonard die Tränen, die unweigerlich in ihm aufstiegen.

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    Juni 2008, Tunguska – Geisterbeschwörung
    Mit einen freundlichen »xōk, xōk, hy, hy«, auf Tungusisch, was soviel bedeutete wie »Los jetzt«, trieb Leonid den braunweiß gefleckten Hengst voran.
    Sein Großvater hatte dem Tier den Namen Hirku gegeben; das Wort hieß übersetzt »Fußgänger« und passte gut zum Charakter des störrischen Pferdes, weil es sich am liebsten im Schritttempo bewegte. Mehr recht als schlecht kämpfte sich der zottige Hengst durch dicht stehende Lärchen und Birken. Ab und an schnaubte das Tier und schüttelte seine buschige Mähne, als wolle es seinen Unmut zum Ausdruck bringen, voranzutraben. Mit einem verständnisvollen Lächeln tätschelte Leonid ihm den Hals. Überall stieß man auf quer liegende Baumstämme, mit einer harmlos erscheinenden Decke aus grünem Moos überzogen, zwischen denen man sich mühelos ein Bein brechen konnte. Dazwischen lauerten tückische Sümpfe, in denen man rasch versank, wenn man nicht aufpasste. Es gab zwar einen angenehmeren Weg von Vanavara aus zu Leonids Waldhütte, die weit im Nordosten in der Nähe des Chekosees lag, doch diese Route hatte er nicht eingeschlagen, damit ihm niemand unbemerkt folgen konnte.
    Und so hechelte nur Ajaci leichtfüßig und schwanzwedelnd hinter ihm her.
    Nach beinahe vier Stunden erreichten sie zur Mittagszeit eine kleine bescheidene Holzhütte. Versteckt zwischen aufragenden Tannen, Lärchen und halbhohen Büschen war das unscheinbare Gebäude mit dem grasbedeckten Dach aus Erde und Steinen zunächst nur für Eingeweihte zu erkennen. Ein Unwissender musste schon direkt davorstehen, damit die Hütte ihm nicht entging. In der Nähe sprudelte ein breiter, klarer Bach, der zum drei Kilometer entfernten Abfluss des Chekosees führte. Unter einem Knarren öffnete Leonid die unverschlossene Tür und lud

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