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Schamland

Schamland

Titel: Schamland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Selke
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Meist gehen sie spät nach Mitternacht los. Die Vorsichtsmaßnahme scheint sich auszuzahlen. Bislang ging alles gut. Nur einmal ertappte sie der Chef einer Bäckerei. »Ich war als Einzige im Container und wollte gerade rausgehen. Ich hatte ein paar Tüten für meine Mitbewohner in der Hand. Da stand plötzlich der Typ vor mir. Aber der hat nicht geschimpft. Der hat nur mit dem Finger gedroht. Das war meine einzige peinliche Erfahrung.« Was sie viel mehr beschäftigt als die Angst, erwischt zu werden, ist die Frage, war­­um so viel Brot weggeworfen wird. Eines Tages wird sie von Bäckereiangestellten der Spätschicht aufgeklärt: Das Brot kann nicht verkauft werden. Damit es die Mitarbeiter nicht mitnehmen, wird es verfüttert. An Schweine. Die essen alles. »Was für ein Unsinn!« empört sich Frau C., »so viel Schweine kann es doch nirgends geben.«
    Die vollen Container gibt es jedoch schon länger. So erinnert sich ein Gesprächspartner in einer anderen Stadt daran, wie er damals, bevor es die Tafeln gab, die Container hinter dem Supermarkt geplündert hat. »Wir haben abends gewartet, bis das rausgetan wurde, und dann haben wir’s uns geholt.« Containern ist also nichts wirklich Neues. Nur hat bislang niemand darüber geredet. Die Grundprinzipien sind schon recht alt. Ich erfahre sie von einem echten Container-Veteranen: »Wir haben uns abends getroffen. Wir wussten ja, wie das abläuft. Einer hat gescoutet und uns gesagt, wann was drin war. Dann mussten wir warten, bis der Geschäftsführer weg war. Vorher konnten wir nicht ran. Der Container wurde abgeschlossen. Aber das hat uns nicht aufgehalten. Ruck zuck haben wir das wieder aufgemacht. Immer wieder kam die Polizei. War ja nicht gestattet, Diebstahl eben. Aber einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen. Die Anzeigen wurden fallen gelassen. Das haben wir so lange gemacht, bis die Tafeln kamen. Die Tafeln sind letztlich die bequemere Version des Containerns. Zur Tafel zu gehen – das bedeutet etwas zwischen Shoppen und sich Dinge aus der Mülltonne holen.«
    Vor der Tafelära hatte man keine Wahl. Heute bedeutet aktives Containern manchmal auch Protest. Wieder eine andere Gesprächspartnerin, die mit ihrem Mann containert, begründet das so: »Wir lehnen die Tafeln ab. Das Sortiment beim Containern ist wahrscheinlich ähnlich wie das bei der Tafel. Nur haben wir den Vorteil, dass wir es selbstbestimmt machen. Ich kann mir da so viel rausholen, wie ich will und was ich will! Ich bekomme das nicht zugeteilt! Da wird nicht dar­über entschieden, was für mich gut wäre oder nicht!«
    Zurück nach Berlin. Dort sind die meisten Container nicht so einfach zu leeren wie der Brotcontainer hinter der Bäckerei, erzählt die Italienerin. »Die Container in Berlin sind immer abgeschlossen und weggesperrt. Man muss immer über einen Zaun springen und ein Schloss öffnen.« Dieses Risiko gehen sie und ihre Freunde kalkuliert ein. Das Wissen darüber, wo es sich lohnt, behalten sie meist für sich. Die Konkurrenz schläft nicht. »Die Infos will man einfach schützen«, fasst sie zusammen, »ich mache das ja nicht zum Spaß. Ich mache das für mich und meine Freunde, um zu sparen.« Containern bedeutet für sie und ihre Freunde nicht Protest gegen Tafeln, sondern Konsumverzicht und Verweigerung.
    Aus Containern holen sich die »Dumpster-Diver« (wie sie sich in einschlägigen Internetforen nennen) alles Mögliche. Und doch kommt Frau C. immer wieder auf die Brotcontainer zu sprechen. Brotberge, die weggeworfen werden. Ein Bild, das man so schnell nicht mehr vergisst. Die Container sind so groß, dass immer zwei oder drei Personen gleichzeitig hineinsteigen können. Mindestens eine Person bleibt draußen und hält Wache. Fasziniert berichtet sie, wie frisch die Brote und Backwaren sind – auch die Baguettes und Croissants, »das glaubt einem keiner«. Auch Bioprodukte werden weggeworfen. Die Stellplätze von Bio-Containern sind echte Geheimtipps in Berlin. »Das ist zwar am Arsch der Welt, aber alles bio. Das würde ich mir sonst nie kaufen, so teuer ist das!«
    Kurz bevor ich Berlin verlasse, beobachte ich an einer Haupt­straße folgende Szene, die ich nur aus Entwicklungsländern kenne: Jugendliche versuchen, sich ein paar Euro zu verdienen, indem sie Frontscheiben von Autos waschen, die an einer roten Ampel anhalten müssen. Ich nenne sie Cent Hunter, weil alles an ihnen Jagd ist. Während der Rotphase springen sie blitzschnell auf die Straße und

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