Schamland
paar Plastikblumen. Er gibt kaum merkbare Zeichen, eine Tochter holt Teetassen. Dann werde ich mit Erdnüssen und Bonbons bewirtet. Die Frau des Generals kramt diese umständlich aus einer Schublade hervor. Es wirkt, als würde sie eine Schatztruhe öffnen. »Fruits?«, fragt der alte General. »For sure!«, antwortet er selbst. Er lacht und reicht mir die Schüssel. Ich nehme mir einen Apfel, schneide ihn in Stücke. Ich reiche ihm und seiner Frau je ein Stück, dann nehme ich mir selbst eines. Der General sitzt schweigend und ab und zu lächelnd auf dem Sofa und sieht sich das Geschehen in dem kleinen Raum an. Nichts passiert.
Irgendwann beginnen wir zu plaudern. Über Afghanistan. Über früher. Dann, fast am Ende des Treffens, erzählt der alte General die Geschichte der beiden deutschen Krankenschwestern. In den 1970er Jahren gab es in seiner Heimatstadt Kunduz ein Krankenhaus, in dem zwei deutsche Krankenschwestern arbeiteten, die als Touristinnen gekommen waren. Als sie sich schon drei Jahre im Land befanden, wurden sie wegen ihres illegalen Aufenthaltsstatus angezeigt. In ihrer Verzweiflung wandten sie sich an den Neffen des alten Generals. Dieser hatte persönliche Kontakte zum Gouverneur der Provinz und trug den Fall vor. Der Gouverneur bat die beiden Frauen zu sich und ließ sich berichten, warum sie in Afghanistan leben und arbeiten wollten. Die Frauen erläuterten, dass sie sich auf ihre Reise durch den Orient in das Land verliebt und beschlossen hätten, einfach dort zu bleiben. Nachdem er sich diese Geschichte angehört hatte, zerriss er vor den Augen der beiden Frauen die Anzeige und sagte: »Sie können so lange in diesem Land bleiben und arbeiten, wie Sie wollen.«
Die Geschichte verstand ich erst sehr viel später, als ich längst wieder zu Hause war. Noch immer dachte ich an die toten Bäume und den ausgestopften Fasan auf der Fensterbank. Erst als ich Webseiten zum Thema Asyl recherchierte, kam mir die Geschichte wieder in den Sinn. Ich las die Forderung einer Menschenrechtsorganisation: »Der Einzelfall zählt.« Ich weiß nicht, ob mir der alte General diese Geschichte absichtlich erzählt hatte oder ob sie ihm einfach zufällig eingefallen war. Ich weiß nicht einmal, ob diese Geschichte überhaupt wahr ist. Aber es ist mir egal, denn sie zeigt, was an der zeitgenössischen Asylpolitik so menschenverachtend ist. Es sind bürokratische Regeln und kaltherzige politische Kalküle, die den Umgang mit asylsuchenden Menschen in Deutschland bestimmen. Nicht offene Herzlichkeit und ein Sinn fürs Menschliche. Die Geschichte des alten Generals zeigt, wie enttäuscht Menschen sein müssen, die in einem Land leben wollen, das ihnen nicht gestattet zu bleiben. Auch wenn sie es lieben. Ein Land, das Menschen in Lagern versteckt. Statt Menschlichkeit kommt Recht zur Anwendung. Die edelste Form von Menschlichkeit – dies macht die Geschichte des alten Generals deutlich – besteht aber im Verzicht darauf, recht zu haben.
Nur schweren Herzens verabschiede ich mich von der gastfreundlichen afghanischen Familie. Im Zimmer nebenan wohnt ein junger Mann aus Uganda, der seit sieben Jahren im Lager ist. Im Alter von 20 Jahren kam er nach Deutschland, ohne Papiere. Wer keine Papiere hat, erhält kein Taschengeld. So gibt es selbst im Lager der Unerwünschten noch Parias. Mein Gesprächspartner gehört zur Kategorie derer, die noch weniger als nichts haben. In der Ecke des Zimmers, das er sich seit Jahren mit wechselnden fremden Menschen teilen muss, stehen zwei Spinde mit Vorhängeschloss. An der Wand klebt ein Riesenposter von Bob Marley. Der Fernseher läuft lärmend und zeigt die Prunkwelt einer gerade stattfindenden Prinzenhochzeit. Ich frage, ob er den Fernseher ausmachen würde, damit wir uns unterhalten können. Er dreht den Ton ab, das Bild flackert weiter. So als ob der Bildschirm eine Nabelschnur zu einer Welt da draußen wäre, die auf keinen Fall abreißen darf.
Im Lager kann er sich nur langweilen. »Nichts, ich kann nichts machen, ich darf nichts machen«, antwortet er auf meine Frage nach seinen Aktivitäten. Residenzpflicht. Keine Arbeitsmöglichkeit. Kaum Kontakte mit Einheimischen. Keiner meiner Gesprächspartner hat es je gewagt, einen Bürger der hübschen Stadt in das Lager einzuladen. Sie schämen sich für die Wohnsituation. Sie schämen sich für den aufwendig verwalteten Mangel. Sie verschweigen, wo sie wohnen, und dieses Schweigen führt zu noch mehr Schweigen. Der junge
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