Schamland
ob wir die Letzten wären, ein komisches Gefühl.« Als ob man nicht mehr Teil der Gesellschaft ist. »Im Moment fühle ich mich, als ob ich eine Nummer wäre. Ich bin nur eine Nummer. Insgesamt. Statistisch gesehen bin ich eine Nummer. Ich habe keine Krankenversicherung, ich habe keinen Job. Ich bin eine Null, aber ich bin eine Nummer.«
Hinter der demonstrativen Wohlanständigkeit verbirgt sich immer häufiger abgrundtiefe Verzweiflung. Das Modell der kleinbürgerlichen Familie, des Häuschens im Grünen, der auf Fleiß und Anständigkeit beruhenden gesellschaftlichen Existenz ist brüchig geworden, so wie auch die damit zusammenhängenden Selbstbilder. Herr T. ist erschüttert. Aber er gibt nicht auf. »Ich hoffe, dass ich demnächst einen festen Job bekomme. Und dann brauchen wir nicht mehr zur Tafel zu gehen. Tafel ade! Das wär’s dann. Wir bräuchten dann dort nicht mehr ›einzukaufen‹, weil man dann selbst genug zur Verfügung hat. Mit einem festen Job wird es anders sein. Richtig gut würde ich mich fühlen, wenn ich einen festen Job hätte. Einen, wo ich sagen kann: Ich bin was! Ich verdiene mein Geld! Dann könnte ich nach zwei oder drei Jahren einen Kredit aufnehmen. Und damit das Dach reparieren, eine neue Heizung und Möbel für die Kinderzimmer kaufen.« Er träumt von einer Firma, die ihm einen neuen Führerschein bezahlt. Irgendwann würde er gerne mit einem Mercedes vor der Tafel vorfahren. Nur um zu sagen: »Seht her, ich habe es geschafft!« Nicht um anzugeben oder andere zu verletzen, sondern nur, um zu beweisen, dass es möglich ist »rauszukommen«.
Als ich ihm zum Abschied von meiner Reise erzähle, werden seine Augen feucht. Eine lange Zeit unterdrückte Sehnsucht quillt über. Üblicherweise begraben unter Pragmatismus, sucht sie sich nun ihren Weg. Rauskommen aus dieser Welt ist für viele, die ich unterwegs treffe, ein großes Thema. Einer meiner Gesprächspartner besitzt ein Rentner-Ticket. Er berichtete mir von seiner besonderen Reise. Er wollte sich selbst davon vergewissern, dass es noch eine Welt ›da draußen‹ gibt. Also hat er einen Ausflug gemacht – in die nächste größere Stadt, 50 Kilometer entfernt. »Ich habe mich morgens in den Zug gesetzt, bin in die Stadt gefahren, habe geguckt. Und tatsächlich: Das gibt es ja! Und dann bin ich wieder zurückgefahren.«
Container und Croissants
An einem sommerwarmen Sonntag in Berlin scheint sich die Welt in Wohlgefallen aufzulösen. Leere, breite Straßen strahlen Ruhe und Behäbigkeit aus, modisch gekleidete Mütter schieben Designerkinderwagen vor sich her. Tatsächlich aber erholt sich die Welt nur für eine weitere Runde Chaos. In der Nähe riesiger Wohnblocks bin ich mit einer Tafelnutzerin zum Kaffee verabredet, die ihre Tochter gleich mitbringt und mir davon erzählt, wie sie erfolglos versuchte, mit der Zucht von Perserkatzen das große Geld zu verdienen. Mein zweiter Gesprächspartner öffnet mir die Wohnungstür im Kaftan und erzählt mir von seinem neuen Glauben. Und schließlich treffe ich mich mit Frau C., einer jungen Italienerin, mit der ich über das Containern spreche.
Sie öffnet mir verdutzt die Tür, da sie unseren Termin völlig vergessen hat, reagiert aber gelassen und macht uns erst mal einen doppelten Espresso. Dann berichtet sie, wie sie zum Containern kam. In Berlin möchte sie ein Aufbaustudium machen. Weil sie kaum Geld hat, praktiziert sie Couch-Surfing – im Moment lebt sie fast umsonst in einer Wohngemeinschaft. Gäste kommen und gehen, gekocht wird gemeinsam, eine Art praktizierte Philosophie. »Einfach zusammen leben, nette Leute einladen, zusammen Abendessen. Das ist wie Volksküche«, erklärt sie. In dieser Gemeinschaft besteht ein starkes »Wir-Gefühl« trotz unterschiedlicher Lebensziele. »Wir sind jung, wir haben kein Geld. Aber wir sind keine Hartz- IV ’ler und sehen auch nicht so aus. Manche wollen studieren, manche wollen reisen, manche einfach nur Geld sparen.«
Für das Containern gab es keinen konkreten Anlass, »das hat einfach so angefangen«. Eines Tages gingen einige Mitglieder der Wohngemeinschaft zu dritt zu einer Bäckerei. Auf dem Hinterhof stand ein großer Container: »Richtig voll mit Brot. Das war so voll, da konnte man drauf laufen. Das ist ein bisschen lustig«, sagt sie und kichert leicht verlegen. Dann erklärt sie die Grundregeln: »Wenn du containerst, musst du nachts hingehen. Das ist privates Eigentum. Deshalb war ich immer ein wenig besorgt.«
Weitere Kostenlose Bücher