Schamland
Mann aus Uganda zeigt mir seinen fast leeren Kühlschrank. Das gelblich flackernde Licht fällt auf eine Packung Eier und zwei Dosen mit Bohnen. Aus dem Kühlfach entnimmt er einen eingepackten Fisch, auf dem noch das Preisschild klebt. Er zeigt mir den Fisch, den sein Zimmergenosse für ihn gekauft hat. »Das ist alles, was ich habe. Ich kann mir nichts kaufen. Ich habe nichts mehr.« Den Kühlschrank lässt er offen, geht aus dem Zimmer und holt mir einen gelben Zettel, der zur Vorausplanung der Lebensmittelversorgung eingesetzt wird. Er klopft an, bevor er das Zimmer wieder betritt, in dem ich auf ihn warte. Wie verängstigt müssen Menschen sein, die an ihre eigene Zimmertür klopfen? Er zeigt mit den ›Speisezettel‹. Aus jeder der aufgeführten Kategorien – »Fleisch /Fisch / Fertiggerichte«, »Milchprodukte«, »Obst«, »Gemüse /Salat« und so weiter – dürfen sich die Asylbewerber je zwei Produkte oder kleine abgepackte Mengen pro Woche auswählen. Die Kategorien sind immer die gleichen, die Produkte sind immer die gleichen. Von Woche zu Woche. Der Hausmeister des Lagers gibt einmal pro Woche Essenspakete aus. Mit den gelben Zetteln müssen diese zwei Wochen vorher zusammengestellt und bei einer Firma bestellt werden.
Ein paar Blocks weiter sitzt ein junger Mann, ein christlicher Armenier aus Syrien, im Zimmer einer Frau, die aus der Mongolei stammt und seit über einem Jahrzehnt im Lager lebt. Sie sind wohl ein Paar. Zumindest hängt sein Bild an dem Spiegel über dem Waschbecken in der Ecke. Ich frage nicht weiter danach. Er war Apotheker, bevor er fliehen musste. »In einem Lastwagen, wie Vieh, durch die Türkei«, fasst er diese Reise bündig zusammen. Und lacht dabei, als würde er von einem komischen Film berichten, den er sich gestern im Kino angesehen hat. Im Hintergrund läuft ein arabischer Sender – Bilder aus seinem Heimatland, verwackelte Amateurvideos von Menschen, die niedergeschossen wurden, blutverschmierte Hemden. Der junge Syrer schaut wie gebannt auf diese Bilder, an mir vorbei, auch während er mit mir spricht. Es ist »sein Land«, wie er immer wieder sagt, die Bilder gehen ihn an, aber sie schaffen keine echte Verbindung. Er befindet sich in einer Zwischenwelt. Er lacht immer wieder. Lacht, als er mir aufzählt, wie viele Menschen in den letzten Tagen in Syrien ermordet wurden. Lacht, als er behauptet, dass jeder, der sich mehr als sechs Monate im Lager aufhält, psychisch krank wird. Er lebt seit gut zwei Jahren dort.
Auch er hat keine Papiere. Er holt einen Stapel Kopien aus einer leeren Laptoptasche. Sie sind sein wichtigster Besitz. Zeugnisse, Atteste, Schreiben mit irgendwelchen exotischen Logos aus exotischen Ländern, Handgeschriebenes, Maschinengeschriebenes, Kopiertes, Gefaxtes. Wie so oft fehlt das einzig bedeutende Papier, der Pass. Der junge Mann wühlt in dem Stapel, so als wolle er mit aller Gewalt dieses fehlende Dokument zum Vorschein bringen. Einzig sein Ablehnungsbescheid taucht auf. Seitenweise unverständliches Beamtendeutsch, fast mehr Paragraphenzeichen als Buchstaben. Kein normaler Mensch kann dies verstehen, schon gar nicht ein Mensch, der gerade Deutsch lernt, egal wie sehr er sich bemüht. Aber zwei Worte sind unterstrichen, »Gefahr von Folter« und »Androhung der Todesstrafe«. Fast stolz weist der Mann darauf hin. Als wäre noch eine weitere Bestätigung notwendig, laufen gleichzeitig die bunten Bilder im Hintergrund weiter. Die Fernsehsendung ist das beste Dokument, das er heute vorweisen kann.
Ich will noch eine weitere Familie besuchen und gehe zur Familienbaracke über den Hof. Ein abgrundtiefes Gefühl der Trauer und erstickter Hoffnung macht sich bei mir breit. Ein Mann holt mich ein und reißt mich aus meinen Gedanken. Er will unbedingt mit mir sprechen, mir seine Geschichte erzählen. In unglaublich kurzer Zeit hat sich meine Anwesenheit herumgesprochen. Der Mangel an Privatheit im Lager beschleunigt den Informationsaustausch.
Der Mann, der mir folgte, ist schwarz. Sehr schwarz. Seine Augen blicken gleichzeitig zornig und ängstlich aus tiefen Augenhöhlen. Zunächst ist da ein Angstreflex. Aber ich kann spüren, dass sich sein Zorn nicht auf mich richtet. Wir gehen nebeneinander her, ein Stück weit. Nur dieses winzige Stück Normalität kann ich ihm bieten. In der Hand hält er eine Packung Hartweizengrieß. »Who wants to talk to me?«, will er von mir wissen. Auf eine Vorstellung verzichtet er. Die Menschen hier
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