Schamland
besprühen die Scheiben der wartenden Autos mit Wasser und Spülmittel. Die Insassen der Autos sind überrumpelt und völlig machtlos. Die Cent Hunter seifen die Scheiben ein, hin- und her. Wie in einer Waschanlage wird die Sicht nach vorne und zur Seite unmöglich. Mit einem Abzieher reinigen sie dann die Scheiben und streifen sich die Lauge an der Hose ab. Es sind vier Jugendliche, die sich je ein Auto in der Reihe vornehmen. Sie tragen Hosen im Military-Look. Nachdem die Scheiben gesäubert sind, beugt sich ein Cent Hunter zur Fahrerin. Die blickt völlig entgeistert durch die Seitenscheibe und winkt ihr »Nein« nach draußen. Die Scheibe bleibt geschlossen. Offenbar fühlt sie sich durch die unerwünschte Dienstleistung ihres Gegenübers moralisch erpresst. Der Cent Hunter versucht, mit der Fahrerin durch die geschlossene Scheibe zu kommunizieren. Es sind eindringliche Gesten, die da auf offener Straße ausgetauscht werden. Ein leicht motziges »Bitte« von draußen nach drinnen wird mit einem »Dafür gebe ich nichts« beantwortet. Dann schaltet die Ampel auf Grün und erlöst die überforderte Fahrerin.
Im Lager der Unerwünschten
Essen ist ein Ritual, Nahrungsmittel sind auch Symbole und beides zusammen Politik. Der vorhandene oder nicht vorhandene Zugang zum Lebensnotwendigsten ist Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe oder der Verhinderung dieser Teilhabe. An keinem anderen Ort wird Teilhabe so systematisch verhindert wie in Sammelstellen für Asylbewerber.
Inmitten der wunderschönen bayerischen Frühjahrsidylle besichtige ich eine solche Sammelstelle, von den dort lebenden Menschen nur »das Lager« genannt. Das Lager befindet sich in einer ehemaligen Kaserne. Vom Schloss der Stadt aus ist man in ein paar Minuten zu Fuß dort. Wenn man möchte. Aber wahrscheinlich verirren sich nur sehr wenige Touristen in diesen Teil der Stadt, ins Lager, dorthin, wo die Lebensreisen von rund 500 Menschen vorläufig enden. Es ist ein Un-Ort, den man besser verdrängt, vergisst oder einfach meidet.
Am Rande des halb verfallenen Spiel- und Bolzplatzes, der an den Stirnseiten von Fußballtoren ohne Netze begrenzt wird, stehen große Müllcontainer und zwei sonderbare Bäume. Mächtige Bäume irgendwann einmal, Pappeln vielleicht, aber ohne Äste oder Blätter. Alles, was wachsen kann, wurde abgesägt. Die Bäume bestehen allein aus ihrem Stumpf. Man kann nur hoffen, dass sie in diesem Zustand überhaupt lebensfähig sind. Sie sehen nicht aus wie Bäume, eher wie Skulpturen – eine Metapher für das Leben im Lager. Nichts soll blühen, nichts darf wachsen. Überleben ja, leben nein. Im Lager der Unerwünschten werden nach den Regeln einer kaum nachvollziehbaren geopolitischen Logik die Biographien der dort befindlichen Menschen verstümmelt.
Über Betonplatten nähere ich mich kleinen, zweistöckigen Baracken, blau-weiß angemalt, aber so gar nicht heimatlich bayerisch. Keine alpenkulissenschwangere Bierwerbung – stattdessen Müll vor den Eingängen, kaputte Treppengeländer, lange kahle Flure, in denen das Gegenlicht aus dem einzigen Fenster am Ende des Ganges die schmierigen Fußböden beleuchtet. Gerümpel in den Ecken, vor den Zimmern, von denen jedes eine Nummer trägt. Und hinter jeder Tür ein gestutztes, durchnummeriertes Leben, ein Gemisch aus Ängsten, Spannungen, Hoffnungen, Aufbegehren und unterdrückter Wut. Lachen entdecke ich – fast schon klischeehaft – nur bei den Kindern, die mir im Flur begegnen und zum Spielen nach draußen wollen. Es wäre ein herrlicher sonniger Tag, wenn da nicht dieses Lager wäre. Jede Tür ist ein Tor in eine andere Kultur, ein anderes Schicksal, ein vor der Öffentlichkeit verborgenes Leben.
Ich besuche eine afghanische Familie. Der Vater kommt herein. Er trägt einen ausgestopften Vogel und wundert sich über den unerwarteten Gast, stellt aber keine Fragen. Nach und nach kommen die restlichen Familienmitglieder zusammen, seine Frau, sein Neffe, zwei Töchter. Sie wohnen alle zusammen in zwei Zimmern. Jedes Zimmer hat Doppelstockbetten aus Metall und pro Person einen schmalen grauen Spind. Ich erfahre, dass der Vater General war und unter den Sowjets sieben Jahre lang in Leningrad ausgebildet wurde. Der Neffe des Generals ging in Afghanistan gerne zur Jagd und hat sich zur Erinnerung an diese Zeit gerade auf dem Flohmarkt in der Stadt einen ausgestopften Fasan gekauft. Der alte General nimmt ihn in Empfang und stellt ihn wortlos auf die Fensterbank neben ein
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