Schamland
keine Ansprüche stellen. Wenn zum Beispiel etwas passiert mit den Lebensmitteln. * Es passiert ja selten etwas, aber wir unterschreiben natürlich. Aber damit ist es nicht getan. Wenn wir Pech haben, kommen wir jetzt erst auf eine Warteliste. * Einen Monat warten, sechs Wochen warten, Monate vergehen. In dieser Zeit bekommen wir nichts zu essen. Was ist das für ein Hohn? *
Irgendwann kommt ein Bescheid. Wir bekommen ein Schreiben von der Tafel, in dem steht, ob wir angenommen wurden oder nicht. Wenn alles gutgegangen ist, erhalten wir mit der schriftlichen Nachricht unsere Berechtigungs-Karte und unseren Abholtermin. * Über Termine diskutieren wir nicht. Wir sind ja flexibel und nirgends mehr eingebunden. Es spielt für uns keine Rolle, an welchem Tag oder zu welcher Uhrzeit wir gehen. * Wir haben einen Termin, und von nun an gehen wir regelmäßig zur Tafel. * Von nun an ist die Tafel Teil unseres Alltags.
Die Tafelmenschen bemühen sich sehr. Aber sie behandeln uns auch wie kleine hilflose Kinder, die an die Hand genommen werden müssen. * Wenn wir nicht regelmäßig kommen, verlieren wir unsere Nummer wieder. Dann geht alles wieder von vorne los. Karte beantragen, neu eingliedern. * Wenn wir es einmal wagen, an einem Tafelausgabetag etwas anderes vorzuhaben, müssen wir am besten eine Woche vorher Bescheid sagen. Wir bitten dann darum, ein ›E‹ in die Liste zu notieren, ›E‹ wie entschuldigt. * Oder wir müssen anrufen, eine Meldung machen und uns entschuldigen. * Oder ein ärztliches Attest bringen. * Wer mehrmals unentschuldigt fehlt, verliert sein Nutzungsrecht. Man misstraut uns. In der Welt der Tafeln haben wir keinen Anspruch auf nichts. Für alles müssen wir Belege bringen. *
In der Öffentlichkeit haben die Tafeln ein tolles Image. Dennoch finden wir es schwierig, über uns und die Tafeln zu reden. Einige von uns gehen offen damit um, indem sie ganz selbstbewusst sagen: ›Ich muss jetzt mal zur Tafel einkaufen gehen. Wo ist das Problem? Wir leben doch alle von Hartz IV .‹ * Bei einigen wissen Freunde, Bekannte und Verwandte von der Tafelnutzung. * Oft sind es Menschen, denen es ähnlich geht. Dann wird gemeinsam über die geringe Rente, Grundsicherung, Hartz IV oder eben über die Tafel gesprochen. *
Die meisten von uns aber schweigen. Sagen es noch nicht einmal der besten Freundin oder dem besten Freund. * Niemand soll wissen, dass es uns so schlecht geht. Das würden wir uns auch nicht anmerken lassen. * Wir wollen erst gar nicht erleben, wie wir dann abgestempelt werden, in der eigenen Verwandtschaft. Wir hängen das nicht an die große Glocke. Wir erzählen es niemandem. * Vor allem auf dem Dorf ist es den Leuten unangenehm. * Einfach peinlich.
Wir versuchen, die Tafeln aus unserem Leben auszublenden, obwohl sie mittlerweile einen zentralen Stellenwert haben. Wir wollen nicht, dass andere das wissen. Wir haben Angst, dass sie uns in eine Schublade einordnen. * Unseren Kindern erzählen wir, dass wir einkaufen gehen. * Die Nachbarn kriegen nur mit, dass wir mit praller Einkaufstüte zurückkommen. Wir waren beim Großeinkauf. Ganz normal. *
Wir wissen schon, warum wir schweigen. Nicht allein wegen der Scham. Auch wegen der vielen Unterstellungen. Einerseits müssen wir uns fragen lassen: ›Zur Tafel? Um Gottes willen – wie kannst du da hingehen? Du isst von dem Zeug da? Das ist doch abgelaufen!‹ * Andererseits müssen wir die Vorhaltungen jener ertragen, die uns als Parasiten betrachten, die sich auf Kosten der Allgemeinheit ein schönes Leben machen. Immer wieder müssen wir uns dumme Bemerkungen anhören. Das ist der Neid. * Da muss sich eine Frau, die einen gehbehinderten Vater pflegt, dafür rechtfertigen, dass sie noch ein Auto besitzt – ein Luxus, der sich für Tafelnutzer scheinbar nicht gehört. * Wir sagen nichts, weil wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, dass wir ja schon Geld bekommen. Wir bekommen ja Hartz IV , das müsste doch reichen – so heißt es dann. Die wenigsten sagen, ›Ich bin bei der Tafel.‹ Bestimmten Leuten sagt man das nicht. *
Im Regen stehen
Wir stehen also da. An unserem Tafeltag. In der Schlange. Viele von uns sind sich der einzigen Regel bewusst, die von nun an Geltung hat. Jeder gegen jeden. * Die Tafeln wollen ein Ort der gutgemeinten Hilfe sein. Aber gutgemeint ist oft das Gegenteil von gutgemacht.
Wir kommen also und warten. Die neue Welt der Tafeln besteht für uns vor allem aus Warten. Wir tun nichts. Nur warten und
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