Schamland
Bedenken, denn wer zur Tafel geht, steht am Pranger der eigenen Gesellschaft. * Was der Pranger auf dem mittelalterlichen Marktplatz war, ist heutzutage die Schlange, in der wir stehen. Dort fühlen wir uns deklassiert, weil wir unsere Armut öffentlich zeigen müssen. Wir stehen auf der Straße, und die Leute, die uns sehen, wissen, was los ist: Das sind Bedürftige . Wir finden das nicht in Ordnung. * Niemand von uns möchte am Pranger stehen. Niemand möchte öffentlich ein Brandzeichen aufgedrückt bekommen, das ausdrückt: Alles falsch gemacht, selbst schuld. * Wir sehen diese Anschuldigungen in den Blicken der Passanten. Wir kennen diese Blicke genau. * Zur Tafel zu gehen ist ein modernes Ritual. Wer hingeht, gehört von nun an zur Unterschicht. Wir kommen uns vor, als hätten wir ein Schild um den Hals hängen: Füttern bitte! *
Beim Gang zur Tafel geht uns der aufrechte Gang verloren. * Es fühlt sich an, als ob wir das Letzte wären. * Bei Tafeln fühlen wir uns als Menschen zweiter Klasse, * als kleine Menschen. * Wir fühlen uns irgendwo unterste Schiene. * Wir fühlen, dass wir am Abgrund stehen. Auch von der eigenen Wertigkeit her. * Wir fühlen uns als minderwertiger Mensch, das ist das Schlimmste. *
Aber die größte Angst haben wir davor, erkannt zu werden. Man schaut nach links und nach rechts. Immer wieder stellen wir uns die Frage, ob die Leute gucken oder nicht. * Alles hängt von dieser einen Frage ab. Ständig sind wir besorgt, dass jemand vorbeikommen könnte, uns erkennt und fragt: ›Was machst du denn hier?‹ *
Genau das wollen wir nicht erleben. Deshalb zögern wir lange. So lange, bis der Druck, der in der Abwärtsspirale entsteht, unerträglich wird. Das können Schulden sein, die kaum noch was zum Leben übrig lassen. Dann sind die Tafeln ein Versprechen auf Erleichterung. * Ein äußerster Rettungsring, * nach dem wir aus purem Instinkt greifen. Denn es geht nur noch darum, zu überleben. Wenn einen dann die eigenen Skrupel daran hindern, zur Tafel zu gehen, ist man dumm. * Tafeln sind das kleinere Übel. *
So einfach ist es aber nicht. Wir zögern, versuchen es so lange wie möglich herauszuschieben. In dieser Zeit betrachten wir die Tafeln erst einmal aus sicherer Distanz. Mit dem Fahrrad fahren wir wie beiläufig an der Tafel vorbei, so als hätten wir etwas zu besorgen und die Tafel läge auf unserem Weg. * Wir gehen auf der anderen Straßenseite zu Fuß wie zufällig an der Tafel vorbei. * Gehen auf und ab und schauen uns das Ganze zunächst einmal aus der Ferne an. * Bei vielen von uns werden dann die Bauchschmerzen stärker und stärker. Wir schauen uns erst einmal um und sehen, dass dort wenig deutsch aussehende Menschen stehen. * Manche reagieren geradezu allergisch, sie sehen nur Menschen, die schlecht Deutsch sprechen. Sehen nur Menschen, die schlechte Manieren haben. Sehen nur die, die schlecht riechen und schlecht gekleidet sind. Die auf offener Straße Lärm machen. Wir beginnen, einen Hass auf die zu entwickeln, die wir sehen. Weil sie all das verkörpern, was wir nicht sind.
Was wir nie sein wollten. *
Schattenmenschen
Wie ein Satellit umkreisen wir die Tafeln, bis uns dieser Anblick total erschöpft. * Wir nehmen viele Anläufe, um dann doch schlussendlich zuzugeben, dass es keinen anderen Weg gibt. Vielleicht ist gerade diese innere Kapitulation die eigentliche Herausforderung. Zur Tafel zu gehen bedeutet einen gewaltigen Schritt für uns. Gerade, weil wir uns vorher schon an allen Ecken und Enden eingeschränkt haben. Und weil wir unsere Lage irgendwie verdrängt haben. Aber genau diese Verdrängung funktioniert nun nicht mehr, wenn wir vor einer Tafel stehen. Dann verstehen wir die Welt nicht mehr. * Dann wird uns die eigene Situation stark bewusst. * Wir sind auf Almosen angewiesen.
Wir quälen uns selbst mit abstrusen Gedanken, wie zum Beispiel dem, dass wir jetzt ›asozial‹ geworden sind, obwohl wir selbst andere niemals so nennen würden. * Aber so fühlt es sich an. Wir stehen nicht nur vor einer Tafel und überlegen, wie wir durch die Eingangstüre treten. Wir stehen auch vor dem Abgrund unseres eigenen Lebens. Wir brauchen dann etwas, um nicht abzustürzen. * Und wir spüren, dass die Tafel uns zwar Lebensmittel bietet, uns aber vor genau diesem Absturz nicht bewahren wird. Im Gegenteil: Die Tafeln führen uns ständig vor Augen, dass uns das eigene Leben entglitten ist, wie ein Stück Seife.
Das alles sind Überlegungen und Gefühle,
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