Schamland
Einsparmöglichkeiten geben muss. * Manche sammeln Fallobst ein oder gärtnern. * Aber irgendwann schaffen wir es dann nicht mehr, die Tafel zu übersehen. Denn das spricht sich ja rum. * Im Fernsehen wird gezeigt, was für einen Euro alles in die Tüte kommt. * Da merken wir, dass wir schon eine ganze Zeit mit dem Gedanken an Tafeln gespielt haben. * Innerlich. Ohne es richtig wahrhaben zu wollen. Zwangsweise gerät die Tafel in unser Blickfeld. *
Viele wohnen einfach zu weit weg von einer Tafel oder können sich die Fahrtkosten dorthin nicht leisten. * Andere lehnen Tafeln aus politischen Gründen ab, weil sie keine Almosen erhalten möchten. * Sie finden, dass man keine abgelaufenen Lebensmittel entgegennehmen muss, die besser gleich in einer Mülltonne landen sollten. * Wieder andere reagieren allergisch darauf, dass Menschen ihnen etwas vorsetzen. Das können sie nicht vertragen. Dann essen sie lieber gar nichts. * Die meisten allerdings gehen aus Scham nicht zu den Tafeln. *
Scham ist mächtig. Scham hält Menschen auch davon ab, sich helfen zu lassen. * Aus Scham hungern manche Menschen lieber. * Viele von denen würden sagen, eher gehe ich im Lebensmittelladen klauen, als mich da hinzustellen. * Das ist die Furcht vor der gesellschaftlichen Ächtung. * Sie schauen sich die Tafel an und sagen: Ich kann das nicht. Ich gehe wieder nach Hause. Es ist laut, es riecht, die Leute gucken. * Um Gottes willen! Das ekelt uns an. * Also weigern wir uns strikt. *
Der Widerstand ist einfach zu groß. Es kostet Überwindung, weil man sich schämt, vor allem das erste Mal. Da müssen wir alle tief Luft holen. * Und trotzdem schaffen es nicht alle. So wie der Mann, der früher ein sehr gutes Jahreseinkommen hatte und nun ein ›Aufstocker‹ ist. Eigentlich würde er sich lieber einen 38er-Revolver kaufen und sich damit eine Kugel in den Kopf jagen, als zur Tafel zu gehen. *
Am Pranger
Die Angst, von anderen erkannt zu werden, ist bloß eine Form unserer Scham. Wir alle leiden unter dieser Angst, jemand könnte uns sehen. Jemand, der noch ein gutes Bild von uns hat. * Deswegen trauen wir uns kaum zur Tafel zu gehen, weil wir uns diese Blöße nicht geben wollen. *
Aber nicht alle, die zur Tafel gehen, sind so. Es gibt, hier und da, die Dickhäutigen. Denen macht das alles nichts aus. Denen ist es egal, was irgendjemand über sie erzählt. Die interessieren sich nicht für andere Menschen. Sie sagen, dass es ihnen nichts ausmacht, was andere über sie denken. * Wieder andere sehen es vor allem pragmatisch. Sie sagen: ›Not macht erfinderisch.‹ * Oder sie haben einfach Hunger, weil sie drei Tage nichts gegessen haben. *
Geldknappheit treibt uns zu den Tafeln. * Wenn andere von dieser Geldknappheit erfahren, schicken sie uns dorthin, anstatt uns richtig zu helfen. Immer wieder fragen uns Freunde: ›Warum gehst du nicht zur Tafel?‹ * Wir selbst schämen uns, aber der soziale Druck wird größer und größer. * Wenn wir es nicht freiwillig tun, sorgen andere dafür, dass wir gehen. Immer häufiger auch Staatsdiener. 3 Im Regal des Jobcenters liegen Zettel mit der Adresse der örtlichen Tafel. * Bei der ARGE weist man uns darauf hin, dass wir bei der Tafel einen Antrag stellen können. * Ein Mitarbeiter der Stadt verweist bei niedriger Rente auf die örtliche Tafel. * Dem Grundsicherungsbescheid vom Landratsamt liegt ein Faltblatt der Tafel bei. Vertreter des Staates, nicht überall, aber hier und dort, sagen immer öfter: ›Wenn Sie nicht genug zu essen haben, dann gehen Sie doch zur Tafel!‹ Immer die gleiche Botschaft: Geht dort hin! Und sie sagen damit auch: ›Lasst uns in Ruhe!‹
Wir finden das unverschämt. *
Aber wir schaffen es nicht, so abgebrüht zu sein, wie es notwendig wäre. Denn der Willkommensgruß im Schamland ist die eigene Bedürftigkeit. Zunächst haben wir alle mit der Schwierigkeit zu kämpfen, zuzugeben, die magische Grenze überschritten zu haben. Diese Grenze ist nirgends genau markiert. Sie besteht aus den Erfahrungen, die wir machen. Erfahrungen damit, was geht und was nicht mehr geht. * Sich auch nur vorzustellen, von nun an bedürftig zu sein, das ist wirklich schwierig für uns. * Für die meisten von uns gleicht das einem Schockerlebnis. * Wir haben immer gearbeitet, wir haben uns immer bemüht. Nie wollten wir so weit runterkommen. * Aber irgendwann beginnen die Bauchschmerzen.
Wir fühlen eine Beklemmung, die sich durch Körper und Seele frisst. * Wir haben
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