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Schamland

Schamland

Titel: Schamland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Selke
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die uns übermannen. Irgendwann kommt trotzdem der Punkt. Paare müssen die Entscheidung ausdiskutieren und die Grenze des Erträglichen neu definieren. * Den Ehemännern ist es peinlich, zur Tafel zu gehen. Der männliche Ernährerstolz steht ihnen im Weg. Sie müssen sich überreden lassen, bis sie einverstanden sind oder gar mitgehen. * Sie sagen zu ihren Frauen: ›Du musst doch da nicht hingehen, wir können das doch kaufen.‹ ›Ja‹, antworten diese, ›aber wir können uns das nicht leisten.‹ * Frauen steht die weibliche Mutterrolle im Weg. Sie versuchen sich Geld zu leihen, solange es möglich ist. Sie wollen als Mutter alles im Griff haben und können nicht zugeben, dass sie ihre Kinder nicht versorgen können. Das ist für sie ganz schrecklich. * Die Kinder selbst sind wenig begeistert und weigern sich ebenfalls. Gerade sie finden es asozial, bei der Tafel gesehen zu werden.
    Das geht nicht, no way. *
    Die Welt stürzt ein, weil wir unseren Rollen als Vater, Mutter, Mann, Frau oder Kind einfach nicht mehr gerecht werden. Und trotzdem stehen wir vor der Entscheidung: Entweder man geht hin oder man geht nicht hin. * Irgendwann sind wir alle so weit. Irgendwann springen wir über unseren Schatten. * Wir sind Schattenmenschen. Trotz aller Bedenken fällen wir dann diese Entscheidung und hoffen inständig, danach noch dieselben Menschen zu sein wie vorher. * Wir beruhigen unser mulmiges Gefühl im Bauch, indem wir uns sagen, dass es keine andere Möglichkeit gibt. * Die Entscheidung fällt.
    Wir gehen.
    Ob man sich nun geniert oder nicht, das spielt dann keine Rolle. * Es kommt der Punkt, an dem man aufhört zu überlegen, an dem man keine Wahl hat. * Wenn dann der Tag kommt, an dem man nicht mehr weiß, von was man Brot kaufen soll, dann nützen alle Bedenken und Hemmungen nichts. Dann muss man der Realität ins Auge schauen. Dann melden wir uns an.
    Das erste Mal ist es peinlich, ein bisschen wie ein Bettlerstatus. * Man hat immer alles selbst auf die Reihe bekommen und plötzlich ist man abhängig. * Wir stehen in der Schlange und schauen uns die anderen Menschen an. Wir fragen uns, gehöre ich jetzt auch dazu? * Am liebsten würden wir im Erd­boden versinken, so sehr schämen wir uns. * Wir trösten uns damit, indem wir uns sagen: ›Sei doch nicht dumm! Andere machen es doch auch!‹ * Wir sind unsicher und stellen uns erst einmal in die Ecke. *
    Manche reden über Gott und die Welt. Und andere gucken einfach in die Luft. Irgendwie depressiv. Ein bisschen niedergeschlagen. * Da gibt es auch Menschen, die sind sehr nett, richtig herzlich. Aber das sind nur wenige. Die allermeisten sind harte, kalte Menschen. Die sich auch mal streiten. * Das Allzumenschliche bleibt nicht vor der Tür der Tafel stehen.
    Viele Leute haben einen Tunnelblick. Ich sehe euch nicht, schaut mich nicht an. Es ist ein ganz spezieller Blick, der Tafelblick. * Nur nach vorne schauen und warten, bis man drankommt. Nicht nach links und nicht nach rechts schauen. * Es ist grauenhaft. Wenn man jemanden anguckt und anlächelt, dann gucken die durch einen durch. Wie Zombies. Hart. Abgekapselt. Unmenschlich. Traurig. Und wieder dieses Gefühl: Wir wollen da eigentlich gar nicht sein. * So wollen wir nicht sein. Das ist, wie sich selbst dabei zuzusehen, wie man sich auflöst.
    Kleine Bürokratie
    Die Tafeln spielen ein Spiel mit uns. Ohne böse Absicht, aber sie tun es. Die Tafeln sind eine Nebenbürokratie in einer Kultur, die nicht auf ihre Regelverliebtheit verzichten kann. Sie sind für uns das verlängerte Sozialamt. * Sie sind eine Welt, in der sich Menschen mit Nummernsystemen, Ausgaberegelungen, Wartezeitenfolgen und Ausgabemengen beschäftigen. Die mit den hohen Nummern sind diejenigen, die spät gekommen sind, das hintere Volk, so nennen wir sie. * Aber eine Nummer müssen wir erst einmal bekommen.
    Am Anfang steht die Bedürftigkeitsprüfung. Man muss sich offenbaren. * Dann heißt es erst einmal Hose runter! Die nackten Tatsachen auf den Tisch legen. Papiere mitbringen! Alles offenlegen! Schauen, ob wir überhaupt etwas kriegen! * Wenn wir dann in das Büro der Tafel gerufen werden, um unsere Papiere vorzulegen, dann wird es richtig unangenehm. Dann haben wir Angst vor jeder Frage. * Aber wir haben uns entschlossen, also brauchen wir den Berechtigungsschein. Da müssen wir uns richtig überwinden. * Und immer schön Bitte und Danke sagen. Und das nicht zu wenig. *
    Zudem unterschreiben wir einen Zettel, auf dem steht, dass wir

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