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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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verpassen.«
      Sein Ausbruch überrascht ihn. Er hat keine schlechte Laune, überhaupt nicht.
      »Du denkst, daß ich mich für bedeutendere Dinge engagieren sollte«, sagt Lucy. Sie sind jetzt auf der Landstraße; sie fährt, ohne ihn anzusehen. »Du denkst, weil ich deine Tochter bin, sollte ich etwas Besseres mit meinem Leben anfangen.«
      Er schüttelt schon den Kopf. »Nein ... nein ... nein«, murmelt er.
      »Du denkst, ich sollte Stilleben malen oder Russisch lernen. Du hältst nichts von Freunden wie Bev und Bill Shaw, weil sie mich nicht zu einem höheren Leben führen.«
      »Das ist nicht wahr, Lucy.«
      »Aber es ist wahr. Sie werden mich nicht zu einem höheren Leben führen, und der Grund dafür ist, daß es kein höheres Leben gibt. Es gibt nur dieses Leben hier.
       
     
      Was wir mit den Tieren teilen. Dieses Beispiel versuchen Leute wie Bev zu geben. Diesem Beispiel versuche ich zu folgen. Einige unserer menschlichen Vorrechte mit den Tieren zu teilen. Ich möchte nicht als Hund oder Schwein wiedergeboren werden und so leben müssen, wie Hunde und Schweine unter uns leben.«
      »Lucy, mein Schatz, sei nicht böse. Ja, ich gebe dir recht, es gibt nur dieses Leben hier. Und was die Tiere angeht, wir sollten unbedingt freundlich zu ihnen sein.
      Aber wir sollten nicht die Perspektive verlieren. Wir gehören einer anderen Schöpfungskategorie an als die Tiere. Nicht unbedingt einer höheren, nur einer anderen.
      Wenn wir also freundlich sein wollen, dann bitte aus schlichter Großzügigkeit, nicht weil wir uns schuldig fühlen oder Vergeltung fürchten.«
      Lucy holt Luft. Sie will offenbar auf seine Predigt antworten, tut es aber dann nicht. Sie kommen schweigend beim Haus an.

  9. Kapitel
 
      Er sitzt im vorderen Zimmer und sieht sich im Fernsehen Fußball an. Es steht Null zu Null; keine Mannschaft scheint daran interessiert, zu gewinnen.
      Kommentiert wird das Spiel abwechselnd in Sotho und in Xhosa, Sprachen, von denen er kein Wort versteht. Er dreht den Ton zu einem Gemurmel herunter. Samstagnachmittag in Südafrika: eine Zeit, die den Männern und ihren Vergnügungen vorbehalten ist. Er nickt ein.
      Als er aufwacht, sitzt Petrus mit einer Bierflasche in der Hand neben ihm auf dem Sofa. Er hat den Ton wieder lauter gestellt.
      »Bushbucks«, sagt Petrus. »Meine Mannschaft. Bushbucks und Sundowns.«
      Sundowns haben eine Ecke. Es gibt ein Gedränge vor dem Tor. Petrus stöhnt und umklammert mit den Händen den Kopf. Als sich der Staub verzieht, liegt der Torwart auf der Erde und hat den Ball unter sich begraben. »Er ist gut! Er ist gut!« sagt Petrus. »Er ist ein guter Torwart. Sie müssen ihn behalten.«
      Das Spiel endet torlos. Petrus schaltet um. Boxen: zwei Männchen, so klein, daß sie dem Schiedsrichter kaum bis zur Brust reichen, umkreisen einander, springen vor, bearbeiten sich mit den Fäusten.
      Er steht auf und schlendert in den hinteren Teil des Hauses. Lucy liegt auf dem Bett und liest. »Was liest du?« fragt er. Sie sieht ihn fragend an, dann entfernt sie das Ohropax. »Was liest du?« wiederholt er; und dann: »Es funktioniert nicht, was? Soll ich abreisen?«
      Sie lächelt, legt ihr Buch beiseite. Das Geheimnis des Edwin Drood – nicht, was er erwartet hätte. »Setz dich«, sagt sie.
      Er sitzt auf dem Bett, streichelt gedankenverloren ihren bloßen Fuß. Ein guter Fuß, wohlgeformt. Guter Knochenbau, wie ihre Mutter. Eine Frau in der Blüte ihrer Jahre, attraktiv trotz der Fülle, trotz der wenig schmeichelhaften Kleider.
      »Aus meiner Sicht, David, funktioniert es ausgezeichnet. Ich bin froh, daß du hier bist. Man braucht eine Weile, bis man sich an den Gang des Lebens auf dem Lande gewöhnt hat, das ist alles. Wenn du erst einmal eine Beschäftigung gefunden hast, langweilst du dich nicht mehr so.«
      Er nickt zerstreut. Attraktiv, denkt er, aber für die Männerwelt verloren. Muß er sich selbst Vorwürfe machen, oder wäre es ohnehin so gekommen? Vom Tag ihrer Geburt an hat er für seine Tochter nichts als die spontanste, vorbehaltloseste Liebe empfunden. Unmöglich, daß sie das nicht bemerkt hat. Ist sie zu groß gewesen, diese Liebe? Ist sie eine Last gewesen? Hat es sie niedergedrückt? Hat sie ihr eine dunklere Bedeutung unterlegt?
      Er macht sich Gedanken, wie es für Lucy mit den Menschen ist, die sie liebt, und wie es für diese mit Lucy ist. Er hat sich nie davor gescheut, einen Gedanken auf seiner gewundenen

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