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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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bin.«
      Drei. Das wäre vielleicht eine Lösung. Er und Lucy und Melanie. Oder er und Melanie und Soraya.
      Sie frühstücken zusammen, dann fuhren sie die zwei Dobermänner aus.
      »Glaubst du, daß du hier leben könntest, in diesem Teil der Welt?« fragt Lucy völlig unvermittelt.
      »Warum? Brauchst du einen neuen Hunde-Mann?«
      »Nein, daran habe ich nicht gedacht. Aber du könntest doch bestimmt eine Stelle an der Universität von Rhodes bekommen – du hast doch bestimmt Kontakte dorthin – oder an der von Port Elizabeth.«
      »Das glaube ich nicht, Lucy. Ich bin nicht mehr vermittelbar. Der Skandal wird mir nachfolgen, wird an mir klebenbleiben. Nein, wenn ich eine Arbeit finden sollte, dann kann es nur etwas Unbedeutendes sein, wie Hauptbuchhalter, wenn es das noch gibt, oder Pfleger in einer Hundepension.«
      »Wenn du die Lästerzungen zum Schweigen bringen willst, solltest du dich dann nicht verteidigen? Schießt das Gerede nicht einfach ins Kraut, wenn du wegläufst?«
       
     
      Als Kind war Lucy still und zurückhaltend gewesen, hatte ihn beobachtet, doch nie über ihn geurteilt, soweit er wußte. Jetzt mit Mitte Zwanzig hat sie sich zu lösen begonnen. Die Hunde, die Gärtnerei, die astrologischen Bücher, die reizlosen Kleider – in alldem erkennt er eine Unabhängigkeitserklärung, überlegt, absichtsvoll. Auch in der Abwendung von den Männern. Sie schafft sich ihr eigenes Leben. Tritt aus seinem Schatten heraus. Gut! Er begrüßt das!
      »Findest du, daß ich das getan habe?« sagt er. »Daß ich vom Schauplatz des Verbrechens geflohen bin?«
      »Nun, du hast dich zurückgezogen. Praktisch gesehen, wo ist da der Unterschied?«
      »Du vergißt die Hauptsache, meine Liebe. Die Argumente, die ich deiner Meinung nach ins Feld führen soll, können nicht mehr vorgebracht werden, basta. Nicht heutzutage. Wenn ich es versuchte, würde man mich nicht anhören.«
      »Das stimmt nicht. Selbst wenn du, wie du behauptest, ein moralischer Dinosaurier bist, gibt es eine Neugier, die hören möchte, was der Dinosaurier zu sagen hat. Ich zum Beispiel bin neugierig. Was sind deine Argumente? Laß hören.«
      Er zögert. Möchte sie wirklich, daß er noch mehr Intimitäten breittritt?
      »Meine Argumentation stützt sich auf das Recht zu begehren«, sagt er. »Auf den Gott, der selbst die kleinen Vögel erzittern läßt.«
      Er sieht sich wieder im Zimmer des Mädchens, in ihrem Schlafzimmer, und draußen regnet es in Strömen, und die Heizung in der Ecke riecht nach Paraffin, er kniet über ihr und schält sie aus den Sachen, während ihre Arme herabfallen wie die Arme einer Toten. Ich war Diener des Eros – das möchte er sagen, aber hat er die Unverschämtheit dazu? Ein Gott handelte durch mich. Welche Eitelkeit! Doch keine Lüge, nicht gänzlich. An der ganzen unglückseligen Geschichte war etwas Großzügiges, das sich mit aller Macht entfalten wollte. Wenn er bloß gewußt hätte, daß nur so wenig Zeit blieb!
      Er versucht es noch einmal, langsamer. »Als du klein warst, als wir noch in Kenilworth wohnten, hatten die Nachbarsleute einen Hund, einen Golden Retriever. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst.«
      »Dunkel.«
      »Es war ein Rüde. Wenn eine Hündin in der Nähe war, wurde er erregt und war nicht zu bändigen, und mit Pawlowscher Regelmäßigkeit schlugen ihn die Eigentümer. Das ging so lange, bis der arme Hund nicht mehr wußte, was er tun sollte. Wenn er Wind von einer Hündin bekam, jagte er mit angelegten Ohren und eingekniffenem Schwanz im Garten herum, winselte und versuchte, sich zu verstecken.«
      Er macht eine Pause. »Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst«, sagt Lucy. Ja, was will er damit eigentlich sagen?
      »An dem Schauspiel war etwas so Schändliches, daß es mich zur Verzweiflung brachte. Mir scheint, man kann einen Hund bestrafen für eine Missetat wie die, an einem Pantoffel herumzukauen. Ein Hund begreift, daß es gerecht ist: ein Schlag für ein Kauen am Pantoffel. Aber der Trieb ist etwas anderes. Kein Tier wird es als gerecht empfinden, wenn es dafür bestraft wird, daß es seinen Instinkten folgt.«
      »Männlichen Wesen muß es also erlaubt sein, unkontrolliert ihren Instinkten zu folgen? Ist das die Moral davon?«
      »Nein, das ist nicht die Moral davon. Das Schändliche an dem Schauspiel in Kenilworth war, daß der arme Hund angefangen hatte, seine eigene Natur zu hassen. Er brauchte nicht mehr geschlagen

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