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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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Wir schläfern sie ein.«
      »Und das ist Ihre Aufgabe.«
      »Ja.«
      »Und es macht Ihnen nichts aus?«
      »Es macht mir etwas aus, es macht mir sehr viel aus. Ich möchte nicht, daß es jemand für mich tut, dem es nichts ausmacht. Und Sie?«
      Er schweigt. Dann: »Wissen Sie, warum meine Tochter mich zu Ihnen geschickt hat?«
      »Sie hat mir gesagt, daß Sie in Schwierigkeiten sind.«
      »Nicht nur in Schwierigkeiten. In Schande, so würde man das wahrscheinlich nennen.«
      Er beobachtet sie genau. Sie wirkt verlegen; aber vielleicht bildet er sich das nur ein.
      »Wenn Sie das nun wissen, haben Sie trotzdem noch Verwendung für mich?« fragt er.
      »Wenn Sie bereit sind ...« Sie öffnet die Hände, preßt sie wieder zusammen, öffnet sie wieder. Sie weiß nicht, was sie sagen soll, und er hilft ihr nicht.
       
     
      Bisher hat er sich jeweils nur kurz bei seiner Tochter aufgehalten. Jetzt wohnt er mit ihr zusammen, lebt er mit ihr zusammen. Er muß aufpassen, daß sich nicht alte Angewohnheiten wieder einschleichen, die Angewohnheiten von Eltern: das Toilettenpapier auf den Halter zu schieben, das Licht auszuschalten, die Katze vom Sofa zu jagen.
      Trainiere fürs Alter, ermahnt er sich. Trainiere, dich einzufügen. Trainiere fürs Altersheim.
      Er gibt vor, müde zu sein, und zieht sich nach dem Abendbrot in sein Zimmer zurück und hört dort schwach die Geräusche, die davon zeugen, daß Lucy ihr eigenes Leben lebt: Schubladen werden geöffnet und zugeschoben, das Radio, das Gemurmel einer Unterhaltung am Telefon. Ruft sie in Johannesburg an und spricht mit Helen? Sorgt sein Aufenthalt hier dafür, daß sie getrennt bleiben? Würden sie es wagen, miteinander ins Bett zu gehen, während er im Haus ist? Wenn das Bett in der Nacht knarrte, wäre ihnen das peinlich? So peinlich, daß sie aufhören würden? Aber was weiß er schon darüber, was Frauen zusammen machen? Vielleicht haben es Frauen nicht nötig, das Bett knarren zu lassen. Und was weiß er speziell über diese beiden, Lucy und Helen? Vielleicht schlafen sie nur zusammen, wie es Kinder tun, kuscheln, schmusen miteinander, kichern, leben wie in der Mädchenzeit – mehr Schwestern als Liebende. Das Bett teilen, die Badewanne teilen, Pfefferkuchen backen, die Sachen der anderen anprobieren. Sapphische Liebe: eine Ausrede fürs Dickwerden.
      Die Wahrheit ist, er stellt sich seine Tochter nicht gern in heißer Leidenschaft mit einer anderen Frau vor, und noch dazu mit einer unattraktiven Frau. Aber wäre er glücklicher damit, wenn das geliebte Wesen ein Mann wäre? Was wünscht er sich wirklich für Lucy? Doch nicht, daß sie ewig ein Kind bliebe, ewig unschuldig, ewig die Seine – das gewiß nicht. Aber er ist Vater, das ist sein Schicksal, und mit zunehmendem Alter wendet sich der Vater immer stärker der Tochter zu, das ist nun mal so. Sie wird seine zweite Rettung, die wiedergeborene Braut seiner Jugend. Kein Wunder, daß in Märchen Königinnen ihre Töchter in den Tod zu hetzen versuchen!
      Er seufzt. Arme Lucy! Arme Töchter! Was für ein Los, was für eine Bürde! Und Söhne – auch sie müssen ihre Sorgen haben, aber darüber weiß er weniger Bescheid.
      Er wünschte, er könnte schlafen. Aber ihm ist kalt, und er ist überhaupt nicht müde. Er steht auf, hängt sich eine Jacke über die Schultern, legt sich wieder ins Bett. Er liest Byrons Briefe von 1820. Byron – fett, mit zweiunddreißig in den mittleren Jahren – wohnt bei den Guicciolis in Ravenna, bei Teresa, seiner selbstgefälligen, kurzbeinigen Geliebten, und ihrem aalglatten, boshaften Mann. Sommerhitze, Tee am späten Nachmittag, Provinzklatsch, kaum verstecktes Gähnen. »Die Frauen sitzen im Kreis, und die Männer spielen das langweilige Faro«, schreibt Byron. Im ehebrecherischen Verhältnis wird alle Langeweile der Ehe wiederentdeckt. »Ich habe die Dreißig immer als Grenze für jedes echte und starke Vergnügen bei den Leidenschaften betrachtet.«
      Er seufzt wieder. Wie kurz der Sommer vor dem Herbst, dann kommt schon der Winter! Er liest bis über Mitternacht hinaus, kann aber trotzdem nicht einschlafen.

  11. Kapitel
 
      Es ist Mittwoch. Er steht früh auf, aber Lucy ist noch vor ihm aufgestanden. Er trifft sie, wie sie die wilden Gänse auf dem Wasserreservoir beobachtet.
      »Sind die nicht schön«, sagt sie. »Sie kommen jedes Jahr wieder. Dieselben drei. Ich bin so glücklich, daß sie mich besuchen. Daß ich die Auserwählte

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