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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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zu werden. Er war soweit, sich selbst zu bestrafen. An diesem Punkt wäre es besser gewesen, ihn zu erschießen.«
      »Oder ihn kastrieren zu lassen.«
      »Vielleicht. Aber im Grunde glaube ich, er hätte sich lieber erschießen lassen. Das wäre ihm lieber gewesen als die angebotenen Lösungen: zum einen seine Natur zu verleugnen, zum anderen den Rest seiner Tage damit zu verbringen, im Wohnzimmer herumzutappen, zu seufzen, die Katze zu beschnuppern und zu verfetten.«
      »Hast du immer so empfunden, David?«
      »Nein, nicht immer. Manchmal habe ich das Gegenteil empfunden. Daß der Trieb eine Bürde ist, auf die wir ohne weiteres verzichten könnten.«
      »Ich muß sagen«, äußert Lucy, »das ist eine Auffassung, zu der ich selbst neige.«
      Er wartet darauf, daß sie weiterredet, doch sie tut es nicht. »Um zum Thema zurückzukehren«, sagt sie, »du bist jedenfalls erst einmal ausgestoßen. Deine Kollegen können aufatmen, während der Sündenbock in der Wüste umherirrt.«
      Eine Feststellung? Eine Frage? Glaubt sie, daß er nur ein Sündenbock ist?
      »Ich glaube nicht, daß es mit der Suche nach einem Sündenbock am besten beschrieben ist«, sagt er vorsichtig.
      »Die Sache mit dem Sündenbock funktionierte wirklich, als noch religiöse Kraft dahinterstand. Man lud dem Ziegenbock die Sünden der Stadt auf und trieb ihn hinaus, und die Stadt war gereinigt. Es funktionierte, weil alle, einschließlich der Götter, wußten, wie das Ritual zu verstehen war. Dann starben die Götter, und plötzlich mußte man die Stadt ohne göttliche Hilfe reinigen. Statt Symbolen waren richtige Taten gefragt. Der Zensor war geboren, im römischen Sinn. Wachsamkeit hieß die Parole: die Wachsamkeit aller allen gegenüber. Reinigung wurde ersetzt durch Säuberungsaktionen.«
      Es reißt ihn mit sich fort; er doziert. »Und nun, wo ich der Stadt den Rücken gekehrt habe, was tue ich in der Wüste?« schließt er. »Ich verarzte Hunde. Betätige mich als rechte Hand für eine Frau, die sich auf Sterilisationen und Euthanasie spezialisiert hat.«
      Lucy lacht. »Bev? Du glaubst, Bev gehöre zum Unterdrückungssystem? Bev hat großen Respekt vor dir! Du bist Professor. Sie hat vorher noch nie einen Professor alten Stils kennengelernt. Sie hat Angst, daß sie in deiner Gegenwart grammatische Fehler macht.«
      Drei Männer kommen ihnen auf dem Weg entgegen, oder zwei Männer und ein Junge. Sie gehen schnell, mit den langen Schritten der Landbevölkerung. Der Hund neben Lucy wird langsamer, das Fell sträubt sich ihm.
      »Haben wir Grund zur Sorge?« fragt er leise.
      »Ich weiß nicht.«
      Sie nimmt die Dobermänner an die kürzere Leine. Die Männer sind heran. Ein Nicken, ein Gruß, und sie sind vorüber.
      »Wer sind sie?« fragt er.
      »Ich hab sie noch nie gesehen.«
      Sie kommen an der Plantagengrenze an und kehren um. Die Fremden sind nicht mehr zu sehen.
       
     
      Als sie sich dem Haus nähern, hören sie die Hunde in ihren Käfigen aufgeregt bellen. Lucy beschleunigt den Schritt.
      Da sind die drei und warten auf sie. Die zwei Männer etwas abseits, während der Junge an den Käfigen die Hunde anzischt und plötzliche Drohgebärden macht. Die Hunde bellen wütend und schnappen. Der Hund an Lucys Seite versucht, sich loszureißen. Sogar die alte Bulldogge, die er adoptiert zu haben scheint, knurrt leise.
      »Petrus!« ruft Lucy. Aber Petrus ist weit und breit nicht zu sehen. »Laß die Hunde in Ruhe!« schreit sie. » Hamba! «
      Der Junge schlendert davon und gesellt sich wieder zu seinen Begleitern. Er hat ein flaches, ausdrucksloses Gesicht und Schweinsäuglein; bekleidet ist er mit einem geblümten Hemd, ausgebeulten Hosen, einem kleinen gelben Baumwollhut. Seine Begleiter tragen Overalls. Der größere von beiden ist hübsch, auffallend hübsch, mit einer hohen Stirn, plastischen Wangenknochen, weiten, geblähten Nasenflügeln.
      Bei Lucys Annäherung beruhigen sich die Hunde. Sie öffnet den dritten Käfig und läßt die Dobermänner hinein. Eine tapfere Geste, denkt er bei sich; aber ist sie klug?
      Zu den Männern sagt sie: »Was wollt ihr?«
      Der Junge spricht. »Wir müssen telefonieren.«
      »Warum müßt ihr telefonieren?«
      »Seine Schwester« – er macht eine unbestimmte Geste nach hinten – »hat einen Unfall.«
      »Einen Unfall?«
      »Ja, sehr schlimm.«
      »Was für einen Unfall?«
      »Ein Baby.«
      »Seine Schwester bekommt ein Baby?
     

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