Schande
»Ja.«
»Wo kommt ihr her?«
»Aus Erasmuskraal.«
Er wechselt Blicke mit Lucy. Erasmuskraal, im Wald auf Konzessionsland gelegen, ist ein Flecken ohne elektrischen Strom, ohne Telefon. Die Geschichte klingt glaubhaft.
»Warum habt ihr nicht vom Forstamt aus telefoniert?«
»Da ist keiner.«
»Bleib hier draußen«, sagt Lucy leise zu ihm; und dann fragt sie den Jungen: »Wer von euch will telefonieren?«
Er zeigt auf den großen, hübschen Mann.
»Kommen Sie rein«, sagt sie. Sie schließt die Hintertür auf und geht hinein. Der große Mann folgt ihr. Nach einer Weile drängt sich der zweite Mann an ihm vorbei und geht auch ins Haus.
Da stimmt etwas nicht, weiß er sofort. »Lucy, komm raus!« ruft er, einen Moment unschlüssig, ob er auch hineingehen oder hier warten soll, wo er den Jungen im Auge behalten kann.
Im Haus ist alles still. »Lucy!« ruft er wieder und will gerade hinein, als der Türriegel klickend vorgeschoben wird.
»Petrus!« ruft er, so laut er kann.
Der Junge dreht sich um und rennt los in Richtung Vordertür. Er läßt die Leine der Bulldogge los. »Faß ihn!« schreit er. Der Hund trottet schwerfällig dem Jungen nach.
Vor dem Haus holt er ihn ein. Der Junge hat eine Bohnenstange aufgelesen und benutzt sie, um den Hund auf Abstand zu halten. »Sch... sch... sch!« keucht er und stößt mit der Stange. Leise knurrend weicht der Hund nach links und rechts aus.
Er verläßt die beiden und eilt zur Küchentür zurück, die unterste Türhälfte ist nicht verriegelt – ein paar Tritte, und sie springt auf. Auf allen vieren kriecht er in die Küche.
Er bekommt einen Schlag über den Schädel. Er hat noch Zeit zu denken: Wenn ich noch bei Bewußtsein bin, ist alles gut, ehe seine Glieder zu Wasser werden und er zusammenbricht.
Er spürt, wie er über den Boden der Küche geschleift wird. Dann ist alles schwarz um ihn.
Er liegt mit dem Gesicht nach unten auf kalten Fliesen.
Er versucht aufzustehen, aber seine Beine können sich irgendwie nicht bewegen. Er schließt die Augen wieder.
Er befindet sich in der Toilette, der Toilette von Lucys Haus. Benommen kommt er auf die Füße. Die Tür ist abgeschlossen, der Schlüssel ist fort.
Er läßt sich auf dem Toilettensitz nieder und versucht, sich zu erholen. Das Haus ist still; die Hunde bellen, aber eher pflichtgemäß als rasend.
»Lucy!« krächzt er, und dann, lauter: »Lucy!«
Er versucht, gegen die Tür zu treten, aber er ist noch nicht wieder bei Kräften, und es ist sowieso zu eng und die Tür zu alt und solide.
Nun ist er da, der Tag der Bewährung. Ohne Vorwarnung, ohne Fanfarenstoß ist er da, und er steckt mitten drin. In seiner Brust hämmert das Herz so heftig, daß es auf seine dumpfe Art ebenfalls Bescheid wissen muß.
Wie werden sie die Bewährung bestehen, er und sein Herz?
Sein Kind ist in der Hand von Fremden. In einer Minute, in einer Stunde, wird es zu spät sein; was ihr auch zustößt, wird dann in Stein gemeißelt sein, wird der Vergangenheit angehören. Aber jetzt ist es noch nicht zu spät.
Jetzt muß er etwas tun.
Obwohl er sich anstrengt, etwas zu hören, dringt kein Laut aus dem Haus zu ihm. Doch wenn sein Kind riefe, wie gedämpft auch immer, dann würde er es gewiß hören!
Er hämmert an die Tür. »Lucy!« schreit er. »Lucy! Melde dich!«
Die Tür geht auf und wirft ihn fast um. Vor ihm steht der zweite Mann, der kleinere, und hat eine leere Literflasche am Hals gepackt. »Die Schlüssel«, sagt der Mann.
»Nein.«
Der Mann versetzt ihm einen Stoß. Er stolpert rückwärts, setzt sich schwer hin. Der Mann hebt die Flasche.
Sein Gesicht ist ruhig, ohne eine Spur von Wut. Er erledigt nur etwas; er bringt jemanden dazu, einen Gegenstand herauszurücken. Wenn das erfordert, daß er ihm die Flasche über den Schädel haut, dann tut er es, so oft es nötig ist, wenn nötig, zerbricht er die Flasche auch.
»Nimm sie«, sagt er. »Nimm alles. Laßt nur meine Tochter in Ruhe.«
Wortlos nimmt der Mann die Schlüssel und schließt ihn wieder ein.
Ihn fröstelt. Ein gefährliches Trio. Warum hat er es nicht rechtzeitig erkannt? Aber sie haben ihm nichts getan, noch nicht. Reicht ihnen möglicherweise, was das Haus zu bieten hat? Tun sie Lucy möglicherweise auch nichts?
Hinter dem Haus sind Stimmen zu hören. Das Hundegebell wird lauter, erregter. Er stellt sich auf den
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